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Themenicon: navigation pathMedienkunst im Überblickicon: navigation pathWahrnehmung
Raum Zeit Technikkonstruktionen
Aspekte der Wahrnehmung
Heike Helfert
 

Mit der Entwicklung technischer Abbildungsmedien sind diese zugleich auch in das Blickfeld künstlerischer Auseinandersetzungen gerückt. Die neuen Kommunikationstechniken wurden umfangreich untersucht und mitunter sogar weiterentwickelt, und der Gebrauch audiovisueller Medien hat zahlreiche neue Qualitäten in die ästhetische Auseinandersetzung mit Fragen der Wahrnehmung eingebracht. So eröffnen sich insbesondere neue Möglichkeiten für den Umgang mit räumlich-zeitlichen Zusammenhängen, die künstlerisch auf vielfältige Art und Weise neu erprobt werden. Dieser Text beschreibt anhand ausgewählter Beispiele unterschiedliche Aspekte der ästhetischen Auseinandersetzung mit Fragen der Wahrnehmung im Zusammenhang mit technischen Abbildungsmedien im 20. Jahrhundert. Im ersten Teil, »Mediale Möglichkeiten«, werden Entwicklungen wie der absolute Film, der strukturelle Film und der Experimentalfilm erörtert, die sich allesamt mit der besonderen Beschaffenheit und Materialität ihres Mediums beschäftigen. Als besonderer Faktor im Bereich der audiovisuellen Wahrnehmung wird daraufhin Zeit als wahrnehmungskonstituierendesElement betrachtet. Die künstlerische Darstellung zeitlicher Strukturen ist hierbei vorrangig an die Auseinandersetzung mit dem Illusionsraum Kino gebunden. Im zweiten Teil des Textes rückt das »Medium Video« in den Mittelpunkt. Dabei wird die Auseinandersetzung mit grundlegenden Phänomenen wie Zeit, Raum und dem menschlichen Körper wie auch deren wechselseitige Einflussnahme bei der Wahrnehmung dieser Elemente thematisiert. Anschließend werden das Verhältnis von Video und Fernsehen sowie die Abhängigkeit unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten von medientechnischen Voraussetzungen dargestellt, sowie auch die Suche nach medienübergreifenden Wahrnehmungserfahrungen. Der dritte Abschnitt, »Wahrnehmungsräume«, beschreibt Beispiele eines erweiterten Medienbegriffs und der Ausdehnung künstlerischer Handlungsfelder in den dreidimensionalen Raum. Besonders hervorgehoben werden dabei eine mobile Betrachterperspektive und die Einbeziehung des Körpers in den Vorgang der Wahrnehmung. Der letzte Teil des Textes, »Wahrnehmungsapparate«, beschäftigt sich mit

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wissenschaftlich geprägten Ansätzen im Bereich der Wahrnehmungsuntersuchungen. Dabei werden Beispiele der Entwicklung und Anwendung von Wahrnehmungsinstrumenten mit unterschiedlichen technischen Voraussetzungen beschrieben. Anhand von analogen wie digitalen Technologien wird schließlich das Phänomen des Sehens mit Unterstützung technischer Hilfsmittel betrachtet.<BR>

I Mediale Möglichkeiten

Die Entwicklung technischer Abbildungsmedien wie Fotografie und Film im 19. Jahrhundert bringt völlig neue Darstellungsmethoden und Formensprachen hervor. Im Film und später im Video wird die Möglichkeit, Raum abzubilden, um die Darstellbarkeit von Abläufen und Bewegung ergänzt. Zeit wird somit als zusätzlicher Faktor in das Repertoire darstellerischer Mittel eingebunden und eröffnet neue ästhetische Möglichkeiten, die sich ohne die zugrundeliegenden technischen Voraussetzungen nicht entwickelt hätten. Schon Walter Benjamin betont in seinem Aufsatz über das »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«[1] die Verflechtung zwischenneuen Technologien und neuen Kunstformen und der daraus entstehenden Prägung von Mustern der Wahrnehmung. Er veranschaulicht diesen Zusammenhang am Beispiel des Films, der durch Verfahren wie Zeitlupe und Vergrößerung oder mittels Bewegungsstudien eine neue Betrachtungsweise der Natur und der Umwelt hervorbringt und vor allem durch die Montage bis dahin nicht gekannte Sehweisen erlaubt. Der Medienwissenschaftler Marshall McLuhan beschreibt in den 1960er Jahren die zunehmende Mediatisierung unseres Alltags und sieht darin eine Erweiterung unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten begründet. McLuhan betrachtet den Mediengebrauch als eine kulturelle Technik, die unterschiedliche Wahrnehmungsbereiche miteinander verbindet: »Das Fernsehbild hat auf jeden Fall mit einer vereinigenden, synästhetischen Kraft auf die Sinneserfahrung dieser stark von der alphabetischen Kultur geprägten Völker gewirkt. […] Radio und Fernsehen […], diese gewaltigen Erweiterungen unseres Zentralnervensystems, haben den westlichen Menschen das Erlebnis der Synästhesie zu etwas Alltäglichem gemacht. Die westliche Lebensweise, wie sie schon seit Jahrhunderten durch

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strenge Trennung und Spezialisierung der Sinne zustande kam, wobei das Sehen die wichtigste Rolle übernahm, kann den Radio- und Fernsehwellen nicht standhalten, welche die ganze Augenwelt des abstrakten, individualistischen Menschen überfluten.«[2]

Es ist jedoch nicht die Technik allein, die Wahrnehmung beeinflusst oder Wahrnehmungsmuster prägt, sondern auch ihr spezifischer Einsatz beziehungsweise ihr ästhetischer Gebrauch, der dazu führt, dass sich unsere Sinneswahrnehmung entsprechend neu organisiert. Über die wechselseitige Beziehung zwischen Medientechniken und ihrem künstlerischen Einsatz schreibt der Kunsthistoriker Vittorio Fagone im Katalog zur documenta 8: »Allgemein gilt die Technologie nicht als Norm äußerlicher Gegebenheiten, sondern als ein ›Medium‹ zur Steigerung kommunikativer Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten. Im speziellen besitzen die neuen Informationsinstrumente eigentümliche sprachliche Kräfte, die es in beiden Richtungen auszukundschaften gilt: einmal hinsichtlich eines lebendigen Austausches mit den anderen Technikender mechanischen Bildaufnahme (wie Fotografie, Kino und Video), zum anderen hinsichtlich der eigenen Fähigkeit, neue figurative Synthesen zu entwickeln, die aus sich selbst heraus leben, [und] multimediales audio-video sind. Jedenfalls handelt es sich um kein Übertragungsverfahren, sondern um die mögliche Definition neuer Materialien, Qualitäten und raum-zeitlicher Bezüge im Bild.«[3] Etwas allgemeiner äußert sich auch Dieter Daniels über die Wechselwirkung von Kunst und Medien: »So wie die künstlerischen Gattungen sich nicht nur durch ihr Material, sondern ebenso durch ihre Kontexte und Institutionen definieren, so beruht auch die Abgrenzung und Erzeugung von Medientechniken auf einer Mischung von kultureller Konvention und technischer Innovation.«[4]

Medium Film

Die Entwicklung des Filmes mit seinen neuartigen visuellen Qualitäten bildete seit Anfang des 20. Jahrhunderts[5] eine wichtige Ausgangsbasis für die künstlerische Untersuchung von neuen Ausdrucksformen und Wahrnehmungstechniken, die im

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Verlauf ihrer Entwicklung auch in anderen Medien fortgesetzt wird. Gegenstand dieser Untersuchungen ist dabei meist die spezifische Form der Medien selbst und ihre Eignung als künstlerisches Ausdrucksmittel. Auch bildende Künstlerinnen und Künstler, insbesondere Maler, beschäftigen sich mit den ästhetischen Möglichkeiten des Films.[6] Das Licht des Films wird als Erweiterung des künstlerischen Spektrums, nämlich als Übertragungsmittel der Malerei in die Dimension der Bewegung betrachtet. Walter Ruttmann, einer der Protagonisten des abstrakten Films, stellt eine beschleunigte Form der geistigen Auseinandersetzung mit Informationen und Eindrücken fest, bedingt durch technische Übertragungsmedien wie Telegrafen, Schnellzüge, Stenografie, Fotografie et cetera. Hierin sieht er den Grund für eine gesteigerte Konzentration auf zeitliche Abläufe. Er fordert daher als adäquate Reaktion auf das damalige Tempo, zeitliche Strukturen auch in geistige Prozesse einzubinden und in den Bereich der bildenden Kunst zu integrieren. In seinem um 1919 entstandenen Aufsatz »Malerei mit Zeit«[7], der schon im Titel die Verbindung verschiedener Ausdruckselemente miteinander vorgibt, schreibt er: »Der Blick, der ingeistigen Dingen immer mehr auf die Betrachtung eines zeitlichen Geschehens gedrängt wird, weiß mit den starren, reduzierten zeitlosen Formeln der Malerei nichts mehr anzufangen«, und schlägt als Lösung vor, »eine ganz neue Art Lebensgefühl in künstlerische Form zu bringen, ›Malerei mit Zeit‹. Eine Kunst für das Auge, die sich von der Malerei dadurch unterscheidet, dass sie sich zeitlich abspielt (wie Musik), und dass der Schwerpunkt des Künstlerischen nicht (wie im Bild) in der Reduktion eines (realen oder formalen) Vorgangs auf einen Moment liegt, sondern gerade in der zeitlichen Entwicklung des Formalen. Da diese Kunst sich zeitlich abwickelt, ist eines ihrer wichtigsten Elemente der Zeitrhythmus des optischen Geschehens. Es wird sich deshalb ein ganz neuer, bisher nur latent vorhandener Typus von Künstlern herausstellen, der etwa in der Mitte von Malerei und Musik steht.«[8]

Im Berlin der 1920er Jahre finden erste öffentliche Vorführung von abstrakten Filmen statt, die einem breiteren Publikum zugänglich sind und sogleich auf größeres Interesse stoßen. Am 3. und 10.Mai 1925 wird die als legendär geltende Filmmatinee »Der absolute Film«[9] mit Beiträgen unter anderem von Hans Richter, Viking Eggeling und Walter Ruttmann aufgeführt.

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Le Retour à la Raison (Ray, Man), 1923Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (Ruttmann, Walter), 1927

Von der Kritik werden diese Animationsfilmexperimente neben Kommentaren zur mangelnden technischen Perfektion auch durchaus positiv aufgenommen, da ihnen ein großes Innovationspotenzial zugeschrieben wird. Den Künstlern geht es dabei weniger um die Entwicklung narrativer Möglichkeiten als um die Ausdehnung ihrer ästhetischen und zumeist abstrakten Untersuchungen in dem neuen Medium Film.[10] Für »Le Retour à la Raison«, der bereits 1923 anlässlich der »Soirée Dada du Cœur à Barbe« in Paris entstand, »streute Man Ray Gewürze, Nadeln, Reißnägel auf das Negativ, belichtete es und setzte seine ›Rayogramme‹ in Bewegung«.[11] Dieser Transformationsprozess, reale Objekte durch ihre direkte Belichtung ohne den Einsatz einer Kamera in bewegte Filmbilder zu übertragen, verändert die Beschaffenheit filmischer Darstellungsweisen, die bis dahin vor allem reproduktiv waren. Der Film wird direkt zum Trägermedium der Bildinformation und dient somit nicht mehr als Abbildungsmedium einer äußeren Realität.

Auch im futuristischen Film[12] experimentieren Künstler zum Teil mit nicht-gegenständlichen Ausdrucksweisen und setzten das FilmmaterialManipulationen wie dem Zerkratzen oder Bemalen der Materialoberfläche aus. Doch die Animationstechnik, die größtenteils mit der Hand ausgeführt werden muss, macht die Produktion rein abstrakter Filme sehr aufwändig. Schon wenige Jahre später entstehen filmische Kompositionen wie Walter Ruttmann's »Berlin. Die Sinfonie der Großstadt« (1926–1927), die kein abstraktes Filmmaterial mehr zur Grundlage haben, sondern dokumentarische Filmaufnahmen nutzen und von einer starken Rhythmisierung der Bilder getragen werden. Das Aufkommen des Faschismus und die schlechte wirtschaftliche Lage haben alsbald ebenso zum Ende des abstrakten Films in Deutschland beigetragen wie der »Mangel an Kooperation und Solidarität« innerhalb der Avantgardebewegung und die »Ungeduld mit den Schwierigkeiten einer neuen Technik«.[13]

Die Tendenz, sich mit den materiellen Grundlagen des Films auseinanderzusetzen, wird Anfang der 1970er Jahre mit dem strukturellen Film, der ausdrücklich seine Form zum Inhalt macht, wieder aufgegriffen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Betonung des Materialcharakters von Film und die Untersuchung

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The Flicker (Conrad, Tony), 1965Wavelength (Snow, Michael), 1967

filmischer Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie. Die meisten strukturellen Filme arbeiten mit einfachen Grundformen wie statischen Einstellungen, Zoom oder Lichteffekten, um filmtechnische Voraussetzungen bewusst zu machen. Aus wahrnehmungsphysiologischer Sicht besteht die Grundlage des Films in der Trägheit des menschlichen Wahrnehmungsapparates. Bilder, die in schneller Abfolge nacheinander projiziert werden, verschmelzen dabei zu einem kontinuierlichen Bewegungsablauf. Angeregt durch die Beschäftigung mit den spezifischen Eigenschaften der Filmprojektion, wie beispielsweise dem pulsierenden Licht, entstand »The Flicker« (1966) von Tony Conrad, der bereits als Musiker bekannt war. Der Film besteht ausschließlich aus einer strukturierten Aneinanderreihung schwarzer und weißer Einzelbilder, die in der Projektion also nur als rhythmischer Wechsel von Hell und Dunkel erscheinen und keinem optischen Bild entsprechen. Dieser lichtrhythmische Formalismus bewirkt beim Betrachten eine bewusst provozierte Irritation der Wahrnehmung, die Nachbilder, Farbsehen und ähnliche Phänomene auslösen kann; gewissermaßen die Übertragung vom Flackern des frühen Films in eine Reizstimulierung des Gehirns.[14]

Die gezielte Sensibilisierung für die Grundlagen von Wahrnehmungsprozessen ist auch Gegenstand in Michael Snows Film »Wavelength« von 1967. Auch hier geht es um formale Probleme anstelle von erzählerischen Inhalten. Durch strukturelle De- und Rekonstruktion des filmischen Aufbaus verweist er auf das, was er gerade nicht einlöst, nämlich den Illusionismus des narrativen Films. »Snows Anliegen ist es, den Betrachter zur größtmöglichen Erkenntnis beider Qualitäten des filmischen Bildes zu bringen: seinen Verweischarakter als Repräsentation der visuellen Welt und seine wesentliche Beschaffenheit als, in Snows Worten, ›projiziertes, bewegtes Licht-Bild‹.«[15]

Experimentelle Filme haben im allgemeinen nicht zum Ziel, die Wirklichkeit zu reproduzieren, sondern sie zu deuten beziehungsweise die Art, wie und wodurch wir sie wahrnehmen, offenzulegen. Gerade die repräsentative Funktion des Films wird angegriffen, indem die Selbstreferenz der filmischen Bilder an die Stelle von außerfilmischer Referentialität tritt.

Allerdings stoßen die Vertreter des strukturellen Films mit ihrem formalen Anliegen nicht auf dasselbe Publikumsinteresse wie ihre Künstlerkollegen knapp

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Stadt in Flammen (Schmelzdahin), 1984

50 Jahre zuvor mit den damaligen Avantgardefilmen. »Waren in den 20er Jahren die Bildenden Künstler zu Filmemachern geworden, so schließt sich in den 70ern dieser Kreis, als die Filmemacher zu Bildenden Künstlern werden. Von der Kritik hoch gelobt entschwindet der Experimentalfilm in den Elfenbeinturm der Bildenden Kunst, weitab vom Publikum.«[16] Seine Beschaffenheit und mediale Funktionsweise bleibt aber auch weiterhin Thema im Experimentellen Film, dessen Bedeutung seit Ende der 1970er Jahre spürbar abnimmt. So inszeniert die Gruppe Schmelzdahin, die sich als ›Filmproduktionskollektiv‹ versteht, zwischen 1983 und 1989 mit ›Found-Footage‹-Material[17] eindrucksvoll die Materialität des Films und zugleich auch dessen ästhetischen Auflösungsprozess. Sie nutzen hierzu ältere Super-8-Filmsequenzen, eine Technik, die längst nicht mehr im alltäglichen Gebrauch ist, sondern deren typischer Einsatzbereich bereits durch die allgemeine Verwendung von Homevideo abgelöst wurde. Das Filmmaterial wird dabei biochemischen Prozessen ausgesetzt, die beim Vergraben im Garten, beim Einlagern im Teich oder bei Überhitzung entstehen. DieErgebnisse dieser natürlichen Zersetzungs- oder Alterungsprozesse werden dann erneut auf Film kopiert und somit im Stadium ihrer Auflösung konserviert. In »Stadt in Flammen« von 1984 zerschmelzen die Filmszenen durch Überhitzung und erzeugen einen infernalischen Bildeindruck des Verschwindens. »Die Bilder zeigen nicht mehr eine figurativ dargestellte Szene, sondern deren Auflösung als zeitlichen Verlauf.«[18]

Filmzeit

Die Dimension Zeit spielt im Umgang mit audiovisuellen Medien eine besondere Rolle. Die Interpretation einer Fotografie als Abbildung eines einzelnen Momentes oder einer Filmsequenz als Darstellung eines zeitlichen Verlaufs setzt bestimmte Abbildungs- und Wahrnehmungskonventionen voraus. Um Zeit als besonderes, wahrnehmungskonstituierendes Element hervorzuheben, gilt es, die gewohnten Darstellungsmuster in den einzelnen Medien zu durchbrechen oder zu unterlaufen. Besonders deutlich wird dies in den verschiedenartigen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Illusionsraum Kino.

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Theaters (Sugimoto, Hiroshi), 1978Illuminated Average #1; Hitchcock's Psycho (Campbell, Jim), 2000

Durch die Übertragung zeitlicher Abläufe in ein zeitlich stillstehendes Medium wie das der Fotografie gelingt es Künstlern wie Hiroshi Sugimoto oder Jim Campbell, Darstellungsstrukturen von Zeit zu visualisieren. Das Verhältnis von Zeit und Raum steht dabei vielfach im Zentrum der Wahrnehmungsuntersuchungen. Das Mittel der konventionellen Fotografie dient dabei eher der Verschmelzung und Verdichtung von zeitlichen Abläufen, während die digitale Technik eine Schichtung und Überlagerung zeitlicher Einzelsegmente erlaubt. Hiroshi Sugimoto führt mithilfe von Licht die Komprimierung von Zeit vor Augen. In seiner Fotoserie »Theaters« beleuchtet er seit den 1970er Jahren das Kino als einen Ort, der durch Licht den Raum und die Zeit gestaltet. Gewöhnlich tritt der architektonische Raum des Kinos in den Hintergrund, sobald das Licht des Projektors eingeschaltet wird. Sugimoto komprimiert aber den gesamten Film auf einem Foto und kehrt das Verhältnis von realem Raum und Illusionsraum um. Er belichtet seine Fotografien während der gesamten Dauer einer Kinovorführung und führt den Film damit auf seine Grundlage, nämlichLicht, zurück. Der gesamte Spielfilm ist somit zwar in einem einzigen Foto enthalten, die Leinwand erscheint jedoch aufgrund der langen Belichtungsdauer lediglich als helle Fläche. Sichtbar bleibt nur der physische Raum des Kinos. Ein ähnliches Ziel verfolgt Jim Campbell in seiner Arbeit »Illuminated Average #1 Hitchcock's Psycho« (2000), indem er den zeitlichen Verlauf eines Spielfilms in einem einzigen Diapositiv speichert. Doch arbeitet er nicht mit analoger, sondern mit Digitaltechnik. Es geht also nicht um die Belichtungsdauer, die eine bestimmte Lichtmenge erzeugt, sondern um die Addition einzelner Filmbilder und ihrer Daten. Bild für Bild wird dabei übereinandergeschichtet und ergibt eine Konzentration von Helligkeits- und Kontrastwerten, die nur in den weniger stark ausgeleuchteten Bildbereichen noch die Umrisse einer Handlung erahnen lassen. Zeit manifestiert sich in diesem Verfahren als Licht und Helligkeitsüberlagerung.

Um extreme, fast bis zur Auflösung getriebene Verlangsamung zeitlicher Strukturen, geht es dem schottischen Künstler Douglas Gordon. Das Verhältnis

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5 year drive-by (Gordon, Douglas), 1995Empire (Warhol, Andy), 1964

der inneren und äußeren Wahrnehmung bestimmt seine Arbeit »5 year drive-by«, die erstmals 1995 auf der Biennale de Lyon gezeigt wurde.[19] Douglas Gordon zerlegt darin den amerikanischen Westernklassiker »The Searchers«[20] in seine filmischen Bestandteile, nämlich Einzelbilder. Indem er die Projektionszeit des Filmes auf die Zeitspanne der dargestellten Handlung ausdehnt, die immerhin einen Zeitraum von fünf Jahren umfasst, ist es dem Betrachter nicht mehr möglich, der Dramaturgie der Bilder zu folgen. Was bleibt, ist ein Nacheinander von einzelnen Bildern, jedes etwa 14 Minuten lang, bevor es von dem nächsten, kaum veränderten Bild abgelöst wird. Da wir den Inhalt nicht verfolgen können, werden das Kino selbst und die überhöhte Darstellung seiner Helden zur Hauptsache. Anders als beim gewöhnlichen Kinoerlebnis scheint hier die filmische Zeit aber nahezu stillzustehen, während die subjektive Zeiterfahrung der Betrachter und die mediale Wahrnehmung selbst in den Mittelpunkt des Bewusstseins rückten.[21]

Andy Warhol geht mit dem Verhältnis von Kino, Zeit und filmischen Konventionen ebenso radikal wiekonsequent um. Viele seiner Filme sind Erzählungen ohne narrative Eingriffe, indem sie zwar ein Geschehen in der Zeit repräsentieren, sich aber einer Handlungsentwicklung oder einem Handlungshöhepunkt verweigern. Meist sind sie auf ein Thema reduziert und mit einer festen, unbewegten Kamera aufgenommen. »Empire« (1964) zeigt beispielsweise acht Stunden lang dieselbe Einstellung des Empire State Buildings, während sich lediglich das Tageslicht ändert. Warhol unterläuft damit grundlegende filmische Strukturen wie die Darstellung von Bewegung oder den Einsatz narrativer Elemente. Das Filmbild ist durch seinen dauerhaft gleichbleibenden Inhalt gewissermaßen seiner repräsentativen Funktion, Bewegung in der Zeit dazustellen, enthoben. Die Frage ›und was passiert dann?‹ erübrigt sich bereits nach den ersten Minuten, sobald nämlich klar ist, dass sich nichts ereignen wird, was einem filmischen Höhepunkt gleichkäme. Warhol konstruiert somit eine an sich dokumentarische Situation, die aber stärker auf die eigentliche Rezeptionssituation verweist als auf den Inhalt des Abgebildeten. So erzeugt er eine Übereinstimmung von

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empire 24/7 (Staehle, Wolfgang), 1999

Drehzeit, dargestellter Zeit und Rezeptionszeit, die gerade durch die Verweigerung dramatischer Möglichkeiten die Wahrnehmung von Zeit und eine durch mediale Konventionen geprägte Erwartungshaltung des Publikums in den Mittelpunkt rückt. Viel interessanter als die Frage, was im Film passiert, ist hier die Frage danach, was im Publikum passiert.

Diesem Synchronitätskonzept verleiht Wolfgang Staehle mit »empire 24/7« die zusätzliche Komponente der Gleichzeitigkeit des realen Objekts und seiner dauerhaften, allseits verfügbaren Wiedergabe im selben Moment. Eine Webcam zeigt 7 Tage in der Woche 24 Stunden täglich das sich ständig aktualisierende Bild des unbeweglichen, ikonenhaften Gebäudes im Internet. Medienrealität wird so als realzeitliches Ereignis erlebbar. Permanent verfügbar, prozessual und ohne Original verknüpft das digitale Bild des Empire State Buildings den Ort der Aufzeichnung mit dem Ort des Beobachters und führt damit, typisch für Live-Webcam-Bilder, eine Realität vor Augen, die ansonsten außerhalb unserer Wahrnehmung liegt.

II Medium Video

Die Reflexion des Videomediums durch das Ausleuchten seiner Möglichkeiten führt von Beginn an zu einer Auseinandersetzung auf wissenschaftlicher, technischer und künstlerischer Ebene. Technische wie künstlerische Experimente und Erfindungen bringen neue Formen der Bilderzeugung hervor. Wiederum sind es anfänglich zumeist bildende Künstlerinnen und Künstler, die ansonsten mit anderen Medien arbeiten, und sich nun mit der neuen Technologie beschäftigen. So erweitern beispielsweise viele Bildhauer und Performance- Künstlerinnen und -Künstler ihre Darstellungsmittel um den Einsatz von Video in ihren Arbeiten und Aufführungen.[22] Die Intermedialität oder Wechselwirkung von Kunst und Medien beruht jedoch weniger auf technischen Gesichtspunkten als auf dem inhaltlichen Interesse an gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhängen. Nicht die technische Umsetzung steht deshalb im Mittelpunkt künstlerischer Produktion, sondern die Art und Weise, wie das Medium eingesetzt wird und was damit gezeigt werden kann.

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Wipe Cycle (Frank Gillette, Ira Schneider), 1969Beobachtung der Beobachtung: Unbestimmtheit (Weibel, Peter), 1973

Closed Circuit

Die sofortige Verfügbarkeit der Videobilder und ihre gleichzeitige Manipulationsmöglichkeit durch Verzögerung oder räumlich getrennte Wiedergabe ist eine besondere Eigenschaft von Video. Viele Künstlerinnen und Künstler haben sich diese Technik in ihren Arbeiten zunutze gemacht. Es entstanden Installationen und Situationsanordnungen, die den Betrachter selbst in die Darstellungssituation einbinden. Das besondere Verhältnis der Gleichzeitigkeit von Realität und Abbild ist die Grundlage für so genannte Closed-circuit-Situationen. Eine solche Anordnung beschreibt eine geschlossene Abbildungssituation, bei der das Aufnahmemedium (die Kamera) direkt mit dem Abbildungsmedium (zum Beispiel einem Monitor) verbunden ist. Häufig wird zugleich ein Objekt oder eine Person seinem eigenen Abbild gegenübergestellt. Der Betrachter macht dabei die Erfahrung der Synchronität seiner Handlung mit deren Abbildung, ähnlich wie im Spiegelbild, jedoch nicht wie gewohnt seitenverkehrt. Er befindet sich nur nicht mehr innerhalb einer aktuellen Situation, die er als Gegenwart empfindet, oder in deren zeitversetzterWiedergabe, die eher Erinnerungs- oder dokumentarischen Charakter hat, sondern auch in einer medial erweiterten Realität. Der Besucher ist dabei ebenso Akteur wie Zuschauer.

Mit dem Einsatz des Closed-circuit-Verfahrens können Situationen für Wahrnehmungserfahrungen zwischen architektonischem und medialem Raum erzeugt werden, die sich dann durch die Anwesenheit des Betrachters aktualisieren. Eine frühe und bedeutende Arbeit, bei der die Besucher in die Installation eingebunden werden, ist zum Beispiel »Wipe Cycle« von Frank Gillette und Ira Schneider (1969).

Video wird häufig ebenso in seiner Funktion als Spiegel wie auch als Überwachungsinstrument eingesetzt. Im Unterschied zum Spiegel ist das Videobild aber von der Position einer aufzeichnenden Kamera abhängig, nicht von der Position zum Abbild. Das heißt, die Selbstwahrnehmung wird durch ein Kameraauge vermittelt, was die Perspektive in irritierender Weise verändern kann, wie zum Beispiel in Peter Weibels Videoinstallation »Beobachtung der Beobachtung: Unbestimmtheit« (1973).

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Live-Taped Video Corridor (Nauman, Bruce), 1970Present Continuous Past(s) (Graham, Dan), 1974He Weeps for You (Viola, Bill), 1976

Zeit Raum Körper

Der Effekt der kameratechnisch vermittelten Selbstwahrnehmung kommt besonders in Raumsituationen zum Tragen, die den Betrachter selbst einbinden. Bruce Nauman erzeugt etwa mit seinem »Live-Taped Video Corridor« (1969–1970) Irritationen der Raum- und Zeiterfahrung, ausgelöst durch das Gefühl der körperlichen An- bzw. Abwesenheit. Nauman betont in seiner Anordnung gezielt den Aspekt der Abhängigkeit von körperlichen Eindrücken bei der Wahrnehmung von Zeit. Dan Graham thematisiert dagegen Zeit als eine im Raum erfahrbare Dimension. Mit seiner Installation »Present Continuous Past(s)«[23] (1974) behandelt er das Verhältnis von räumlicher und zeitlicher Erfahrung. Wahrnehmung findet gewöhnlich in der Gegenwart statt. Deshalb sind wir nicht in der Lage, Vergangenes oder Zukünftiges wahrzunehmen. Mit »Present Continuous Past(s)« konstruiert er einen Raum, der das Phänomen der sich ständig fortschreibenden Gegenwart erfahrbar macht, indem er zeitliche Distanz räumlich visualisiert. Während Nauman und Graham gerade Brüche und Diskontinuitäten im Erleben von Zeit betonen, erzeugtBill Viola in seiner Installation »He Weeps For You«[24] (1976) die Erfahrung von Kontinuität, Beständigkeit und den Zusammenhängen zwischen Mikro- und Makrostrukturen. Er schafft einen Erfahrungsraum, der auf ganzheitliche Wahrnehmung angelegt ist. Dabei spricht er ›archetypische‹ Vorstellungen an, wie den unaufhörlichen Kreislauf der Erneuerung, und erzeugt eine Wahrnehmungssituation, die auf urtümliche Prägungen und Auffassungsmuster des menschlichen Lebens zielt. Durch die Fokussierung des Blicks auf einen stetig herabfallenden und dazu akustisch verstärkten Wassertropfen zeigt Viola kleinste Ereignisse in riesenhafter Vergrößerung. So wird das Augenmerk auf die Beobachtung der Beständigkeit und das eigene Bewusstsein gelenkt.[25] Das persönliche Erleben der fortschreitenden Zeit wird dabei verstärkt durch die Beobachtung der ständig neu entstehenden, den Betrachter reflektierenden Tropfenoberfläche.

Video/TV

In der Anfangsphase des Mediums stand weniger die Auseinandersetzung mit individuellen Wahrnehmungserfahrungen im Vordergrund als das

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Exposition of Music – Electronic Television (Paik, Nam June), 1963TV-Buddha (Paik, Nam June), 1974

Interesse an den generellen ästhetischen und kommunikationstechnischen Möglichkeiten. Viele Künstler haben ein eher medienanalytisches Interesse verfolgt. Videokunst wurde dabei aufgrund ihrer technologischen Nähe zum Fernsehen vielfach als Schnittstelle zwischen Kunst und kommerzieller Massenkommunikation betrachtet. Das ambivalente Verhältnis zwischen Video und Fernsehen wurde besonders in den Anfängen von vielen Künstlerinnen und Künstlern aufgearbeitet. Es entstanden Reflexionen des Mediums Fernsehen durch gezielte Abgrenzung, Imitation, Unterwanderung, Manipulation, Inbesitznahme, Zerstörung, Verfremdung und so weiter. Meist stand dabei der Kommunikationsprozess selbst im Mittelpunkt der Arbeiten.[26]

Nam June Paik, einer der Pioniere der Videokunst, hat sich bereits 1963 in der Wuppertaler Ausstellung »Exposition of Music – Electronic Television«, mit dem Fernsehen als Massenkommunikationsmittel und der Störung oder Durchbrechung von dessen Einwegcharakter auseinandergesetzt.[27] Seiner Zeit voraus hat er, in Ermangelung verfügbarer Videotechnik, technisch manipulierte TV-Geräte mitelektronisch verfremdeten Bildern gezeigt. Das Publikum war dabei eingeladen, selbst Manipulationen vorzunehmen und so aktiv in den Bildprozess einzugreifen (»Participation TV«). Später entwickelt er dann »TV-Buddha« (1974), eine Closed-circuit-Videoinstallation, die heute als ›Ikone‹ der Medienkunst gilt: eine Buddhastatue ›meditiert‹ in dieser selbstreflexiven Gegenüberstellung vor ihrem Abbild. Nicht Zerstreuung, sondern kontemplative Versenkung und die unausweichliche Konfrontation mit dem eigenen Abbild sind das Prinzip dieser Arbeit – eine frühe Form medialer Entschleunigung und Dekompression. In groß angelegten Videoinstallationen verfolgt Paik aber auch den umgekehrten Weg und betont durch Informations- und Reizüberflutung die Redundanz der Medien. Dabei nutzt er das elektronische Medium als Mittel der uneingeschränkten Reproduktion und setzt das permanente Selbstzitat als ein Arbeitsprinzip ein, das sich durch sein gesamtes Werk zieht.[28]

In den 1960er Jahren entsteht verstärkt das Bestreben nach einem wachsenden Austausch zwischen wissenschaftlichen Methoden, technischen

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Black Gate Cologne (Piene, Otto; Tambellini, Aldo), 1968TV Interruptions; 7 TV Pieces (Hall, David), 1971Ten Works; Matchbox (Bruszewski, Wojciech), 1973

Umsetzungen und künstlerischen Ansätzen der Erfahrungsaneignung. Technologische Neuerungen im Bereich der Massenkommunikation werden als Chance zur Entwicklung einer Massenkultur betrachtet. Aldo Tambellini, der 1968 gemeinsam mit Otto Piene die Fernseh-Live-Kunstsendung »Black Gate Cologne« produzierte, äußerte sich dazu geradezu enthusiastisch: »Technologie und Kultur stehen miteinander in einer Wechselbeziehung. Wir haben uns von einer industriell-elektronischen zu einer Kommunikations-Informations-Gesellschaft gewandelt. – Durch Telekommunikation sieht man einander von Bildschirm zu Bildschirm, und wir werden eins mit der neuen Wahrnehmung der Welt. Das elektromagnetische Spektrum muß als eine natürliche Quelle kreativer Aktivitäten angesehen werden. Übermittelte Information ist die neue Form von Kunst.«[29]

Viele Künstlerinnen und Künstler waren auf der Suche nach ästhetischen Ausdrucksformen, die die gegenwärtigen technischen Möglichkeiten nutzen oder sie sogar überwinden und dadurch mitkonstruieren. Dazu gehört seit den 1970er Jahren besonders dieAuseinandersetzung mit Sehgewohnheiten. So sendet David Hall 1971 unter dem Titel »TV Interruptions« eine Reihe von visuell irritierenden Filmsequenzen kommentarlos im öffentlichen Fernsehen. Dabei läuft beispielsweise der Monitor vorgeblich mit Wasser voll, das überraschenderweise, nachdem die Kamera um einen Winkel von 90 Grad gedreht worden ist, wieder abläuft, was die Erwartung einer gleichbleichenden Perspektive stört. Mit derartigen Eingriffen in die Sehgewohnheiten unterbricht Hall das Kontinuum der Fernsehrezeption am heimischen Bildschirm.

Wojciech Bruszewski stellt in seinen Film- und Videoarbeiten »Ten Works« (1973– 1977) audiovisuelle Untersuchungen an, in denen er die gewohnte Synchronität von Bild- und Tonebene aufhebt und damit deren Zusammenhang zur Disposition stellt. Der Zuschauer ist eher bereit, einen nachträglich vertonten Film hinzunehmen, als eine Störung der als natürlich angenommenen, in Wirklichkeit aber medial erzeugten Zusammengehörigkeit von Bild und Ton zu akzeptieren.[30]

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Three Transitions (Campus, Peter), 1973Pendelnder Fernseher (Kiessling, Dieter), 1983

Video als immaterielles Medium

Die Untersuchung ästhetischer Eigenschaften der Videotechnik und die Beschäftigung mit optischen Verfremdungseffekten führt auch zu der Auseinandersetzung mit Video als reiner Lichtform. Die Bildinformation im Videoaufzeichnungsverfahren basiert im Gegensatz zum Film auf einer elektromagnetischen Information, die für die menschliche Wahrnehmung nur mittels technischer Apparaturen zugänglich ist. Das Videobild bietet dabei bemerkenswerte Möglichkeiten der Manipulation. Peter Campus inszeniert in »Three Transitions« (1973–1977) Wahrnehmungssituationen, die eigentlich unmöglich sind. Indem er unterschiedliche Perspektiven, die nicht gleichzeitig wahrnehmbar sind, miteinander verknüpft, stellt er die Struktur natürlicher Raumgefüge in Frage. In einer Sequenz durchschreitet Campus beispielsweise sein eigenes Abbild. Der Betrachter wird dabei Zeuge seiner eigenen Täuschung. Campus hinterfragt natürliche, physikalische Gesetzmäßigkeiten, indem er sie scheinbar durchbricht. Dabei macht er sich die Losgelöstheit des Videobildes von materiellen Bedingungen zunutze. Durch die Verbindung eigentlich divergierender Standpunkte, die durch dieGleichzeitigkeit der Videobildwiedergabe simultan dargestellt werden können, erzeugt er eine künstliche Einheit von Zeit und Raum. Ausgangspunkt für diese Situationsanordnungen sind für Campus dabei sein »Interesse an Zeit-Räumen und der Akkumulation von Perspektiven, deren Umwandlung und Verlagerung von Licht und Elektrizität, die Rückkoppelung des eigenen, projizierten Abbildes, und die Balance und das Verschmelzen von Unterschieden, deren gemeinsame Ursprünge nicht direkt wahrzunehmen sind«.[31]

Unsere medialen Wahrnehmungsmöglichkeiten sind abhängig von medientechnischen Voraussetzungen. Diesen Einfluss auf unsere durch Erfahrung und Technik geprägten Sehgewohnheiten betont auch Dieter Kiessling in seiner Installation »Pendelnder Fernseher« (1983). Gewohnte Abbildungsverhältnisse werden hier scheinbar umgekehrt. In einer Feedbacksituation zwischen Kamera und Monitor, die ihren technischen Aufbau durchaus offen zeigt, gibt er wahrnehmungstechnische Rätsel auf. Um zu verstehen, was er sieht, muss der Betrachter sich die Differenz und die wechselseitige Abhängigkeit zwischen der physischen Situation und ihrer medialen Abbildung vor Augen führen.

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Artifacts (Vasulka, Woody), 1980Paik/Abe Synthesizer (Paik, Nam June; Abe, Shuya), 1969Direct Video Synthesizer; Zero and One (Beck, Stephen), 1970

Technische Manipulationen

Unsere Sehgewohnheiten wandeln sich analog mit der technischen Veränderung der Abbildungsmedien. Die Bedeutung von Video für die veränderte Weltwahrnehmung begründet sich neben der realzeitlichen Wiedergabemöglichkeit in der gleichzeitigen Möglichkeit der Manipulation, die einen Eingriff in die Bilder bereits während der Aufzeichnung erlaubt. Das Interesse an einer direkten Manipulierbarkeit von Bildern und damit an der visuellen Interpretation und Erzeugung von Welt, hat verschiedene Künstlerinnen und Künstler zu einer Reihe von technischen Experimenten und Erfindungen herausgefordert.

Mit seinem Videoband »Artifacts« (1980) fasst Woody Vasulka systematisch die Ergebnisse seiner experimentellen Untersuchungen zusammen und führt das dabei entwickelte ästhetische Vokabular vor. Nicht mehr das Bild als ganzes, sondern das Halbbild als strukturierende Einheit bildet dabei die Grundlage seiner videoästhetischen Forschungen. Betrachtet vom Standpunkt heutiger Sehgewohnheiten, die auf einertechnologisch sich ständig verbessernden Grundlage basieren, wird der revolutionäre Charakter dieser Bilder allerdings erst durch seine historische Einordnung deutlich. Durch die Entwicklung elektronischer Bildwerkzeuge seit den 1970er Jahren und den Einsatz dieser selbstentwickelten Technologien entwirft Woody Vasulka, häufig gemeinsam mit Steina Vasulka, technisch und ästhetisch neuartige Formen digitaler Bilderzeugung und -manipulation.[32] Diese nehmen zum Teil eine elektronische Bildsprache vorweg, die 10 Jahre später zum Fernsehalltag gehört. Oft entstanden diese Entwicklungen in Zusammenarbeit mit Ingenieuren und Technikern.

Auf dem Gebiet der Bilderzeugung und Manipulation haben auch Künstler wie Nam June Paik in Zusammenarbeit mit dem Techniker Shuya Abe oder Ed Emshwiller geforscht und dabei technische Möglichkeiten der Bildbearbeitung entwickelt, wie den nach ihnen benannten »Paik/Abe Synthesizer«[33] (1969). Stephen Beck entwickelte 1970 den so genannten »Direct Video Synthesizer«, der eine direkte

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Artifacts (Vasulka, Woody), 1980

Beeinflussung von Elementen wie Farbe, Form, Bewegung und sogar Raumillusion ermöglicht. Damit konnten Bilder erzeugt werden, die in die Nähe von optischen Halluzinationen rückten, was damals eher im psychedelischen Film Ausdruck fand, dessen Merkmal es war, die Konstanten des Wahrnehmungsvermögens durch visuelle Effekte in Frage zu stellten.

»Auch wenn es nicht lange angehalten hat, gab es doch eine Phase im Videobereich, wo es um die Frage der Darstellung ging, ähnlich wie der Streit zwischen Konkreter Musik und dem Synthesizer oder dem Bazinschen Diskurs über die filmische Realität. Es ging um die Verwendung von Bildern; diejenigen, die gottgegeben oder natürlich waren gegenüber denen, die innerhalb eines Gerätes erzeugt wurden. Es gab ein deutliches Interesse an maschinell erzeugten Formen, die so entfernt von der Natur waren wie möglich. Das Prinzip des Synthetischen war das Thema des Tages.«[34]

Der Gegensatz zwischen synthetisch erzeugtem und aufgezeichnetem ästhetischen Material drückt sich seit der Erfindung elektronischer Verfahren in unterschiedlichen künstlerischen Feldern aus. Imvisuellen Bereich entsteht der Gegensatz von Film und synthetischem Bild, während sich im akustischen Bereich die Musique Concrète mit Repräsentanten wie Pierre Schaeffer und Pierre Henry und die elektronische Musik mit Vertretern wie Karlheinz Stockhausen gegenüberstehen.[35] Der Verwendung von Bildern oder Tönen, die einen Bezug zur äußeren Wirklichkeit haben, steht dabei die künstliche Neuerschaffung von visuellen oder akustischen Ausdruckselementen entgegen. Ähnlich wie die Bilder im abstrakten Film haben die rein elektronisch produzierten Videoarbeiten, wie etwa »Artifacts« (1980) von Woody Vasulka, keine repräsentative Absicht. Ihre Funktion ist selbstreferenziell und verweist auf ihr eigenes Bilderzeugungsverfahren.

Im Lauf der 1980er Jahre lässt das Interesse an der Untersuchung des Mediums Video nach. Wahrnehmungs- und kommunikationstechnische Fragestellungen, die bis dahin umfangreich untersucht wurden, treten hinter das Interesse an narrativen Formen[36] und subjektivem Ausdruck zurück.

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Tunnel (Demand, Thomas), 1999Modern Minimal Disco (Sonntag, Jan-Peter E. R.), 1996Pol (Granular Synthesis), 1998

III Physiologische Effekte und Erweiterungen

Das Hinterfragen gewohnter Wahrnehmungserfahrungen zeigt sich auch in Versuchen, verschiedene Wahrnehmungsbereiche miteinander zu verbinden oder Sinneserfahrungen im Bereich des Bewusstseins nachzuspüren. Arbeiten wie »Tap Dance«[37] von Willie Walker oder »Tunnel«[38] von Thomas Demand (1999) verweisen auf die Verknüpfung von Sinneswahrnehmung und kognitiver Erfahrung. Indem sie gezielt Assoziationen hervorrufen, spielen sie auf Wahrnehmungsmechanismen an, die zwar fast unweigerlich bestimmte Eindrücke auslösen, jedoch physisch nicht repräsentiert werden. Das, was man wahrzunehmen glaubt, wird eigentlich nicht gezeigt. Willie Walker spielt mit dem ergänzenden Wissen der Betrachter, wenn er einen Steptanz aufführt, bei dem aber nur sein Oberkörper im Bild zu sehen ist und er die Geräusche dazu mit dem Mund erzeugt. Thomas Demand geht noch einen Abstraktionsschritt weiter, wenn er den Betrachter auf eine Kamerafahrt durch das Papiermodell des Tunnels schickt, in dem Prinzessin Diana bei einem Autounfalltödlich verunglückte. Das gespeicherte Bildwissen aus den massenmedialen Wiederholungen der Bilder vom Unglücksort löst beim Betrachten das Gefühl aus, Zeuge der Situation zu sein, die zwar real kaum jemand gesehen hat, die aber Teil des kollektiven Bewusstseins zu sein scheint.

Im Gegensatz zu eher analytischen Beobachtungen in den visuellen Medien nehmen Künstler wie Jan Peter E. R. Sonntag in seiner Installation »modern minimal disco« (seit 1995) oder Granular Synthesis in ihrer Performance »POL« (1998) direkten Einfluss auf die physische Wahrnehmung der Rezipienten und erzeugen synästhetische Erfahrungen. Mit der Übertragung von Sinneseindrücken von einem Medium in ein anderes, wie der Umwandlung von Klang in Vibration, wird die ansonsten typische Kopplung von deren Darstellungsweise an bestimmte Medien durchbrochen und in andere Bereiche ausgedehnt. In Installationen oder Performances machen sie Klänge körperlich spürbar und fügen dem akustisch Wahrnehmbaren eine zusätzliche sensorische Qualität hinzu.

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Movie Movie (Shaw, Jeffrey), 1967

Wahrnehmungsräume

Auch außerhalb des Rahmens klassischer Kommunikationsmedien wie Film und Video existierte immer ein anhaltendes Interesse an der Untersuchung optischer Phänomene. Ein erweiterter Medienkunstbegriff verlässt die Grenzen der reinen Bildübertragung und bezieht andere Ausdrucksmittel in den künstlerischen Prozess ein. Dazu können architektonische Gebilde ebenso zählen wie beispielsweise Licht oder Klang. Meist geht es darum, die Wahrnehmungsuntersuchungen über die zweidimensionalen Möglichkeiten der Bildmedien hinaus in den dreidimensionalen Raum auszudehnen.

In den 1960er Jahren wird immer häufiger das Mittel der Performance als Instrumentarium zur sinnlichen Wahrnehmung von Raum eingesetzt.[39] Im Expanded Cinema[40], das mehr oder weniger alles beschreibt, was herkömmliche Filmproduktions- und Projektionstechniken überschreitet, werden konventionelle Formensprachen auch durch die Ausdehnung des Films in den Raum aufgebrochen. Oftmals werden Kunst und Technik dabei gleichwertig miteinander verbunden, neue Projektionstechnikenerprobt und das Publikum in das Ereignis eingebunden. Joachim Paech beschreibt die Utopie der Expanded-Cinema- Bewegung als »eine neue Avantgarde, mit der das Cinema in alle Bereiche der Information und Kommunikation, des Performativen und des Wissens, kurz des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens ausgeweitet würde. Kunst wird ebenso zum Medium gesellschaftlicher Information, wie die neuen Medien mit künstlerischen Mitteln ihrer Informationsaufgabe gerecht werden, wobei Information generell mit Veränderung identifiziert wird«. [41]

»Movie Movie«[42] (1967) war eine solche Environment-Aktion mit Film, die Wahrnehmungsvorgänge als ein Ereignis mit vielen flexiblen Komponenten inszenierte. Ein mit Pressluft gefüllter Raumkörper wird zu einer mobilen, transparenten Projektionsfläche, die von dem ebenfalls mobilen Publikum durch Körpereinsatz verformt werden kann. Das dynamische Verhältnis der einzelnen Faktoren wie architektonischer Raum, Betrachter und Bild zueinander erzeugt ein variables visuelles Erlebnis, das das Bild als Teil der Architektur inszeniert. Die damit beabsichtigte Erweiterung der

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Wirklichkeitserfahrung entspricht auch der damaligen (zum Teil durch Drogen beeinflussten) Stimmung der Zeit und nimmt durch die Einbeziehung des Betrachters spätere, meist computergestützte, immersive Wahrnehmungsräume vorweg.[43]

Peter Weibel, selbst ein wichtiger Vertreter der aktionsbezogenen Kunst dieser Zeit, beschreibt die damalige Auffassung von medialen Situationen so: »Das klassische Filmsystem mit den Grundfiguren und Grundregeln – Projektor, Projektionsfläche, Tonstreifen, Regisseur, Kamera, Kamerabewegung, Schneidemaschine, Montage, Kameraposition, Kinovorhang etc. – wurde als jederzeit veränderbare Konvention, als ein System von Variablen aufgefasst. Man kann statt Zelluloid einen Zwirnsfaden nehmen, statt des Projektors einen Spiegel, statt des Lichtstrahls eine Schnur, statt einer Leinwand einen Brustkorb, statt elektrischem Licht Feuer, statt Lichtreaktionen chemische Reaktionen, man kann mit oder ohne Zelluloid arbeiten, im Kinosaal oder außerhalb, mit oder ohne Leinwand, mit beweglicher oder stabiler Leinwand, mit der Kamera als Projektor, mit dem Menschen als Leinwand etc.«[44]

Die technische Weiterentwicklung der Computertechnologie ermöglicht es heute, die Konzepte der 1960er und 1970er Jahre zur räumlichen und handlungsorientierten Einbindung des Betrachters in das Kunstwerk mit technologischen Mitteln neu umzusetzen. Jeffrey Shaw, einer der Initiatoren intermedialer Ereignisse wie »Movie Movie«, setzt zum Beispiel die partizipativen Ansätze in computergestützten virtuellen (Projektions-) Umgebungen fort.

Licht und Bewegung

Ein erweiterter Begriff medialer Kunst bindet auch den Einsatz von Licht und Bewegung als künstlerisches Material ein. Bereits in den 1950er Jahren beschäftigten sich Künstler der Gruppe ZERO wie Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker mit Licht als gestalterischem Mittel. Ihr Anliegen war es, Malerei auf ihre Bedingungen, nämlich insbesondere das Licht als zugrundeliegendes Element, zurückzuführen. Dabei verließen sie allerdings die Technik der Malerei mit Farbe und Leinwand und gestalteten räumliche Werke, die Schatten warfen oder Reflexionen hervorriefen und

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Camera Silens (Arndt, Olaf; Moonen, Rob), 1994

Bewegung in ihr Konzept einbezogen. Es entstanden Arbeiten, deren Eindruck sich je nach Betrachterstandpunkt verändert. Heinz Mack betrachtet nicht die Farbe oder andere formale Komponenten, sondern deren räumliche Organisation und Bewegung als die eigentliche Form künstlerischer Arbeit.[45]

Gerade die Einbindung einer variablen Betrachterperspektive in das Werk ist wichtiger Bestandteil vieler raumbezogener Kunstwerke. Während der Besucher einen Raum durchschreitet, hat er keinen festgelegten Betrachterstandpunkt, der eine optimale Wahrnehmungsperspektive vorgibt. Die Bewegung und Orientierung im Raum ist dabei ein beabsichtigtes Element der Besuchererfahrung.

James Turrell[46] schafft seit den 1970er Jahren Installationen, die Nicht-Materielles, nämlich Licht, physisch erfahrbar machen. Diese Lichträume lösen intensive Sehereignisse aus und geben dem Betrachter oft perspektivische Rätsel auf. In seinen begehbaren Rauminstallationen löst er den Zusammenhang von optisch wahrnehmbaren Raumtiefen und der Erfahrung räumlicher Dimensionen auf und erzeugt den Eindruck,sich in einem grenzenlosen Umfeld aus reinem, farbigen Licht zu befinden. Turrells Lichträume behandeln damit nicht nur das Sehen selbst und das Wechselspiel zwischen Illusion und Wahrnehmung, sondern weisen durch die hervorgerufene optische und räumliche Orientierungslosigkeit zugleich auf den Körper als Ort der Perzeption. Mit seinen »Perceptual Cells« (1991) schafft Turrell die partizipatorische Variante dieser Wahrnehmungsinszenierungen. Der Betrachter begibt sich in eine kleine geschlossene Wahrnehmungskapsel hinein, wo er mit Hilfe von Knöpfen und Reglern unterschiedliche optische Sinnesreizungen selbst erproben und regulieren kann.

Klang

Ausgehend vom Körper als dem Ort, wo sich Wahrnehmung manifestiert, zeigen Olaf Arndt und Rob Moonen durch sensorische Deprivation[47] in ihrem Isolationsraum »Camera Silens« (1994), dass es ausgeschlossen ist, nichts wahrzunehmen. Abgeschirmt von äußeren Einflüssen, konzentriert sich die Wahrnehmung auf die eigenen Körpergeräusche. John Cage, dessen Denken durch asiatische Philosophie

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4\'33\'\' (Cage, John), 1952Watteau; Camerafahrten mit Automobil (Kleinefenn, Florian; Rahmann, Fritz), 1987

beeinflusst war, ließ sich durch die Erfahrung in einem Isolationstank zu einer seiner wohl berühmtesten Arbeiten anregen. Die Erkenntnis, dass das Fehlen äußerer Einflüsse nicht zu einer absoluten Stille, sondern zu einer Konzentration auf innere Sinneserfahrungen führt, die in der alltäglichen Wahrnehmung unterdrückt werden, ist in das Konzept der Klavieraufführung »4'33''«[48] eingeflossen, die 1952 uraufgeführt wurde. Der Titel entspricht der Dauer des Stücks, während der jedoch kein einziger Klavierton erklingt. Statt die Tasten zu bedienen, klappt der Pianist den Klavierdeckel zu und erzeugt so eine vermeintliche Stille, mehrmals unterbrochen vom Öffnen und Schließen des Klavierdeckels. Was dabei tatsächlich zu hören ist, sind die Zuschauergeräusche wie Rascheln, Husten, Zwischenrufe und dergleichen.[49]

Das Verfahren, die Stille durch hölzernes Klappern kurzzeitig zu unterbrechen, um sie anschließend um so intensiver wieder erfahren zu können, findet auch in der Kunst traditioneller japanischer Klanggärten Anwendung. In einem Bachlauf wird dazu ein Holzgefäß an einer Art Wippe befestigt, das in regelmäßigen Abständen voll Wasser läuft, Übergewicht gewinnt undbeim Aufschlagen ein Geräusch erzeugt, das die herrschende friedvolle Atmosphäre kontrastiert, um mit diesem kurzzeitigen kleinen Schock den Genuss an den Klängen des Gartens zu steigern. Unklar bleibt jedoch, ob John Cage dieses traditionelle Verfahren kannte.

IV Wahrnehmungsapparaturen

In der Auseinandersetzung mit Fragen der Wahrnehmung liegt die Anwendung wissenschaftlich geprägter Forschungsansätze nahe. An der Schnittstelle von wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeitsfeldern werden einfache, analoge Instrumente bis hin zu technisch sehr komplexen Apparaturen systematisch erprobt und entwickelt. Dabei werden besonders technisch erzeugte Perspektiven untersucht, aber auch Wahrnehmungsräume in bisher nicht sichtbare Bereiche ausgedehnt.

Den Gebrauch von Wahrnehmungstechnologien und deren Einfluss auf unsere Welterfahrung zeigen auf eine ebenso einfache wie eindrucksvolle Weise Florian Kleinefenn und Fritz Rahmann. Für ihr »Watteau«-Projekt haben sie anlässlich der documenta 8 (1987) ein Auto zu einer mobilen Camera Obscura[50] umgebaut

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Dunkelkammerhut (Schilling, Alfons)Video-Head-Set (Schilling, Alfons), 1973Head-Mounted-Display (Sutherland, Ivan), 1968

und ›erfahren‹ so im wörtlichen Sinn ihre Umgebung. Zu ihrer Orientierung, und damit als Handlungsgrundlage, dient ihnen dabei ausschließlich die medial vermittelte Wahrnehmung, nämlich das auf den Kopf gedrehte Abbild der Umgebung im Wageninneren. Technische Innovationen und optische Apparaturen wie die Camera Obscura haben Künstler immer wieder zu einer Auseinandersetzung mit derartigen Wahrnehmungsinstrumenten herausgefordert. Dabei steht aber zumeist nicht wie hier der Aspekt der medial vermittelten Wahrnehmung, sondern vielmehr die Beschäftigung mit optischen Phänomenen im Zentrum des Interesses.

So untersucht Alfons Schilling seit den 1960er Jahren die physikalischen und optischen Gegebenheiten des Sehens und entwickelte infolgedessen so genannte ›Sehapparate‹ zur Erprobung des stereoskopischen Sehens. Es entstanden dabei verschiedene optische Systeme, die sich mit räumlichem Sehen in Verbindung mit Bewegung beschäftigen, wie der »Dunkelkammerhut«, eine große tragbare Camera Obscura, die den ganzen Körper in den Vorgang der Wahrnehmung der Umwelt einbezieht.1973 entwickelt Schilling unter dem Titel »Video-Head-Set« ein Head-Mounted-Display, wie es Ende der 1960er Jahre auch von Ivan Sutherland vorgestellt wurde; eine Apparatur, bei der der Benutzer zwei kleine Monitore vor den Augen trug und damit die Vorstellung haben konnte, sich in verschiedenen räumlichen und zeitlichen Dimensionen bewegen zu können. Allerdings war die verfügbare Technik zu diesem Zeitpunkt noch nicht befriedigend ausgereift, so dass Schillings Entwicklung im Stadium des Prototypen verblieb. Dennoch können diese Sehmaschinen als gedankliche und technische Vorläufer heutiger Virtual- Reality-Konstruktionen gelten. Denn damit zeichnete sich deutlich eine Entwicklung von der bisherigen, technisch simulierten Darstellung von Bewegung zum tatsächlichen Erleben von Bewegung im Raum ab. »Die Grunderfahrung und für die Zukunft der Vision entscheidende Erfahrung ist, dass die apparative Wahrnehmung eine neue Wahrnehmung von Raum und Zeit ermöglicht […]. Mit klassischen Worten: Scheinkörper bewegen sich in Scheinräumen und sind vom Betrachter durch die Apparate steuerbar. Dies ist das Grundkonzept von Cyberspace.«[51]

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The Garden; 21st Century Amateur Film (Waliczky, Tamás), 1992

Doch das Sehen mit Unterstützung technischer Hilfsmittel entspricht nicht dem gewohnten Eindruck des Sehens und muss erlernt werden, wie das Beispiel der mobilen Camera Obscura zeigt. Vom Sehen durch ein einfaches optisches Gerät wie eine Brille über die beschleunigte Perspektive einer Bahnfahrt bis zur Darstellung eines Zooms, bei dem sich der Blick einem entfernten Punkt stufenlos immer mehr annähert, muss die Interpretation von Sinneseindrücken erst trainiert werden. Dies gilt besonders bei technisch erzeugtem Sehen, das Bilder hervorbringt, die vom natürlichen Sehen abweichen. Selbst das, was wir als natürliches Sehen empfinden, ist keine angeborene Funktion und bedarf ähnlich anderen grundsätzlichen Fähigkeiten wie Gehen oder Sprechen einiger Übung. Bereits in einem frühen Lebensstadium lernt der Mensch daher, Sinneseindrücke zu analysieren und die daraus gewonnenen Informationen zu interpretieren – eine entscheidende Grundlage für die menschliche Orientierung.

Durch die Verbindung von Computer und Videotechnologie hat sich seit Mitte der 1980er Jahre die Möglichkeit einer beinahe uneingeschränktenManipulation der Bilder entwickelt. Digitale Bilder können, losgelöst von der äußeren Realität, generiert werden. In einer simulierten Wirklichkeit kann sich somit die Bedeutung bekannter Wahrnehmungskonstanten auflösen, da sie an keine physikalischen Gesetzmässigkeiten gebunden ist, wenn Größen wie Proportionen, Raumdimensionen oder Farben zu beliebig manipulierbaren Größen werden.

Tamás Waliczky nutzt diese Möglichkeiten in seiner Computeranimation »The Garden« (1992), um Wahrnehmung als erlernte Fähigkeit sichtbar werden zu lassen. Er entwirft eine Welt, die hypothetisch an die Perspektive eines Kindes geknüpft ist, das die Interpretation von Umgebungsinformationen wie Entfernungen und Größenverhältnisse noch lernen muss. Der Betrachter wird dabei in diese computertechnisch erzeugte Wahrnehmungsperspektive, die Waliczky die WAter-dRop-Perspektive[52] nennt, eingebunden. Allerdings geht es hier nicht um die psychologisierende Darstellung von subjektiver oder psychedelischer Wahrnehmung. Der Blickwinkel bleibt stets ein 360 Grad umfassendes Wahrnehmungsfeld, das an alle

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Augenzeichnungen (Hendricks, Jochem), 1992TerraVision (ART+COM), 1994

Umgebungsobjekte dieselben optischen Maßstäbe legt. Lev Manovich schreibt über das Verhältnis der virtuellen Kamera zur virtuellen Umgebung: »In Waliczkys Arbeiten vereinen sich die Welt und die Kamera zu einer Einheit. […] Die Kamera dient nicht nur als Wahrnehmungsinstrument, sondern als schöpferisches Element beziehungsweise als erkenntnistheoretisches Instrument.«[53]

Die Bandbreite möglicher Beobachtungs- oder Wahrnehmungsperspektiven wurde mit der Einführung technischer Sehapparate um diejenigen Wahrnehmungsbereiche erweitert, die das natürliche menschliche Sehen überschreiten. Eine technisch erzeugte Wahrnehmungsperspektive, die allerdings tatsächlich an ein sehendes Subjekt gebunden ist, führt Jochem Hendricks, in seiner Serie von »Augenzeichnungen« vor. Mit Hilfe eines ›Eye-Tracking-Systems‹[54] werden dabei die Augenbewegung einer Person beim Sehen durch Infrarot-, Video- und Computertechnik erfasst und in die Darstellung von Linien übertragen. So entstehen Grafiken, die die Wahrnehmung eines Einzelnen nach außen sichtbar machen, wobei das Wahrnehmungsorgan gleichzeitigzum Ausdrucksinstrument wird. Das durch technische Mittel erzeugte Bild, das ebenso durch das Lesen einer Zeitung wie das visuelle Abtasten eines Porträts hervorgebracht sein kann, ist somit immer an die natürliche Perspektive eines menschlichen Betrachterstandpunktes gekoppelt.

Am anderen Ende des Spektrums technischen Sehens steht das Verlassen der natürlichen menschlichen Perspektive. Geräte, die einen Blick auf die Realität ermöglichen, der dem menschlichen Auge allein nicht zugänglich ist, entstammen häufig aus dem medizinischen oder naturwissenschaftlichen Bereich. Dazu zählen Mikroskope, die kleinste Elemente sichtbar machen, Röntgenaufnahmegeräte oder Sonden, die einen Einblick in das Körperinnere zulassen[55] oder Teleskope, die den Blick ins All ermöglichen.

Art+Com hat ein System entwickelt, dass nicht nur einen Blick auf ein bestimmtes Detail unserer Welt öffnet, sondern unter Nutzung eines komplexen Datensystems eine umfassende Betrachtung unserer Erde ermöglicht. »Terravision«, ein frei navigierbares, computergestütztes Globussystem, nutzt keine abstrakten kartografischen Daten, sondern reale

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Satellitenaufnahmen zur Darstellung der Welt. Der Benutzer dieses Programms kann nahezu aus jeder beliebigen Perspektive und jeder gewünschten Distanz die Erde betrachten. Er kann seinen Blick dabei aus dem All direkt auf einen bestimmten Punkt der Erde lenken und sich diesem mit zunehmender Detailgenauigkeit nähern. Vom Satellitenbild bis zur Detailaufnahme eines Zielobjektes entspricht der Blickwinkel dieser Aufnahmegeräte dabei nicht dem menschlichen Betrachterstandpunkt. Diese losgelöste Perspektive legt vielmehr den Gedanken an eine weltumspannende Überwachungsfähigkeit nahe oder suggeriert einen nahezu göttlichen Überblick, der die natürliche menschliche Fähigkeit des Beobachtens und Sehens durch technische Hilfsmittel überschreitet. Satellitenbilder oder andere von menschlicher Manipulation vermeintlich unabhängige Aufzeichnungssysteme suggerieren durch ihre meist wissenschaftliche Nutzung die Darstellung einer objektiven Realität.

Doch selbst solche Bilder, die unsere Wahrnehmungsfähigkeit scheinbar grenzenlos erweitern, müssen von uns gedeutet werden. Einesolche Interpretation kann nicht völlig frei von weltanschaulich oder ideologisch geprägten Grundlagen sein. Als Beobachter sind wir immer ein Teil des zu untersuchenden Systems und beeinflussen allein dadurch bereits die Untersuchungsergebnisse. Unsere Wahrnehmung ist also immer an unsere eigene (geistige oder physische) Perspektive gebunden, die wir nicht verlassen können, deren technische, ästhetische oder soziale Codierung jedoch von Künstlern erfahrbar gemacht wird.

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