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Richard Kostelanetz
»John Cage im Gespräch«

[Auszug]

Wann haben Sie das Medium Radio zum ersten Mal kreativ eingesetzt?

Als ich in Seattle den Job als musikalischer Begleiter der Tanzkurse von Bonnie Bird annähm, interessierten mich in erster Linie die vielen Schlaginstrumente, die sie dort hatten; aber als ich ankam, entdeckte ich, daß es in Verbindung mit der Schule einen Radiosender gab, eine Art großen Schuppen. Das Gebäude existiert immer noch, aber ich glaube, es wird jetzt als Töpferei benutzt. Damals jedenfalls gab es den Radiosender, und wir konnten damit herumexperimentieren, indem wir die Schlaginstrumente mit leisen Geräuschen kombinierten, die im Studio verstärkt werden mußten. Das Ergebnis konnten wir dann in den Theatersaal übertragen, der nur ein paar Schritte entfernt war. Wir waren natürlich auch in der Lage, Plattenaufnahmen zu machen, und nicht nur das, wir konnten auch Schallplatten als Instrumente verwenden

Wie haben Sie Schallplaltten als Instrumente benutzt?

Na ja, die Platte macht ein bestimmtes Geräusch auf dem Plattenteller, und mit der Umdrehungsgeschwindigkeit verändert sich dessen Höhe. Wir hatten damals Plattenspieler, die man heute gar nicht mehr sieht; sie hatten eine Kupplung, mit der man von einer Geschwindigkeit auf die andere umschalten konnte.

Was konnten Sie denn in dem Studio anderes mit den Platten machen, als wenn Sie sie irgendwo live abgespielt hätten?

Die Plattenspielet standen eben einfach in diesem Gebäude und konnten nicht transportiert werden; außerdem hatten sie eine Geschwindigkeitssteuerung.

Was konnten Sie denn mit dieser Geschwindigkeitssteuerung anfangen?

Wenn man die Umdrehungsgeschwindigkeit der Platte verändert, verändert man damit auch die Frequenz des aufgenommenen Tones. Ich arbeitete mit einer kontinuierlichen Klangfolge, die zu Testzwecken von der Victor Company aufgenommen worden war, die sowohl konstante Töne enthielt als auch solche, die fortwährend einen ganzen Bereich verschiedener Höhen durchliefen. Diese Aufnahmen habe ich in »Imaginary Landscape No. l« verwendet.

Spielten Sie sie auf mehreren Plattenspielerri gleichzeitig?

Nein. Es mag zwischendurch der Fall gewesen sein, das weiß ich nicht mehr so genau; aber grundsätzlich wurden sie simultan mit anderen Instrumenten wie Becken, präpariertem Klavier und so weiter gespielt. Im allgemeinen lief auf einem Plattenspieler nur eine Platte, dann nahm ich sie ab und legte eine andere auf.

So daß Sie schnell von einer Platte zur nächsten übergehen konnten?

Nicht schnell, aber in angemessenem Tempo.

Wurde der Klang hinter dem Mikrophon noch irgendwie modifiziert?

Nein, nein, mit Klangmodifikationen habe ich nie viel gearbeitet.

Warum nicht?

Ich fand die Töne interessant, so wie sie waren.

Wann haben Sie sich das nächste Mal mit Radio beschäftigt – beim Kenneth-Patchen-Projekt?

Ja, ich war immer ein Bewunderer des Hörspielprogrammes des Columbia Workshop gewesen. Sie werden sich sicher auch an das Stück erinnem, in dem es um das Ende der Welt ging, wo das ganze Land dachte, es wäre authentisch; so daß es außer mir noch viele andere Leute gab, die sich für die Stücke des Columbia Workshop interessierten. Ich wandte mich an Davidson Taylor hier in New York, weil ich gern die musikalische Begleitung für ein solches Hörspiel übernehmen wollte. Ich erläuterte ihm, daß Hörspielmusik meiner Ahsicht nach die Umweltgeräusche, die im Stück selbst auftauchen, berücksichtigen sollte; das heißt, wenn das Stück auf dem Lande spielt, sollte man Geräusche von Vögeln und Grillen und Fröschen und so weiter verwenden; spielt es dagegen in der Stadt, so würden sich die Geräusche des Straßenverkehrs anbieten. Mit anderen Worten: Ich wollte diese Töne wie Musikinstrumente einsetzen.

Die Idee gefiel ihm, und er bat mich, einen Autor für das Hörspiel vorzuschlagen. Mein erster Vorschlag war Henry Miller. Ich fragte ihn, ob er ein Hörspiel für mich schreiben würde, und er meinte, es wäre wohl besser, wenn ich erst einmal seine Bücher lesen würde. Es war damals schwierig, an Henry Millers Bücher heranzukommen, weil sie als Pornographie galten, deshalb gab er mir noch in Chicago ein besonderes Empfehlungsschreiben an die New York Public Library mit. Dort gab es, wie er sagte, seine Bücher, und ich ging auch dorthin und konnte sie lesen. Dananch sah ich keine Möglichkeit, aus diesen Büchem ein Hörspiel zu machen, aber dachte immer noch, daß er zu diesem Zweck etwas Spezielles schreiben sollte. Das wollte er aber nicht. Also fragte Davidson Taylor, wen ich sonst wählen würde, und ich sagte Kenneth Patchen. Sein »The journal of the AIbion Moonlight« [1941] hatte ich mit großem Vergnügen gelesen.

Ich lebte damals in Chicago und hatte mich mit dem Direktor der Abteilung für Toneffekte bei CBS angefreundet. Da es sich nun um ein CBS-Workshop-Projekt für ein bestimmtes Datum und mit einem bestimmten Termin handelte, fragte ich ihn, welche Töne ich verwenden könnte, und er sagte, ich bräuchte mir keine Beschränkungen aufzuerlegen. (Musiker sagen einem das auch häufig; sie sagen: Schreiben Sie, was Sie wollen, wir spielen es.) Also machte ich mich an die Arbeit. Meistens ging ich in die Innenstadt von Chicago, zum Loop, schloß meine Augen und lauschte, und beim Zuhören fielen mir die verschiedensten Dinge ein, die ich in Worten und als musikalische Notation niederschrieb. Als ich diese dann dem Toningenieur zeigte, erklärte er mir, daß das, was ich aufgeschrieben hatte, schlechterdings unmöglich sei.

Ebenso, wie Musiker Ihnen dann doch immer wieder erklärten daß Ihre Partituren unmöglich seien.

Genau. Also fragte ich, was so unmöglich daran wäre. Er meinte, es würde sehr teuer werden. Inzwischen waren es nur noch ein paar Tage bis zum geplanten Termin, und da sagte er, meine ganze Partitur, die für eine Stunde Musik gedacht gewesen war, sei nicht ausführbar. Ich mußte also innerhalb weniger Tage eine neue Partitur schreiben, und so benutzte ich die Instrumente, die mir vertraut waren – nämlich Percussions und Schallplatten. Das Stück von Kenneth Patchen hieß »The City Wears a Slouch Hat«. Ich blieb vier Tage hintereinander auf, ohne richtig zu schlafen, machte nur hin und wieder ein kurzes Nickerchen und schrieb. Ich war damals mit Xenia Cage verheiratet, und sie übernahm das Kopieren. Die Musiker standen uns ständig zur Verfügung.

Sie probten die neue Partitur also praktisch, während Sie sie niederschrieben.

Ja, so ungefähr. Ich schrieb, sie kopierte, und dann spielten sie es.

Existiert die erste Partitur noch?

Nein, ich glaube nicht.

Können Sie sie rekonstruieren? Wäre es möglich, das Stiick mit Hilfe der heute verfüglbaren Technik zu spielen?

Das ginge vielleicht, aber ich werde es nicht tun.

Wie kam Ihnen Anfang der 50er Jahre die Idee, das Radio als Musikinstrument einzusetzen?

Es gab seit Beginn des 20. Jahrhunderts, seit den Futuristen, die Tendenz, jegliche Geräusche, alles, was Töne hervorbrachte, als Musikinstrument zu benutzen. Diese Entwicklung initiierte ich eigentlich nicht selbst; es war eher so, daß ich offen war für das, was in der Luft lag.

Erinnern Sie sich, welche Gedanken Sie sich damals dariiber machten?

Ja, ich stellte fest, daß ich das Radio nicht mochte und daß ich fähig sein würde, es zu mögen, wenn ich es für meine Arbeit verwendete. Das ist dieselbe Art zu denken, die wir den Höhlenbewohnern zuschreiben, die furchteinflößende Tiere auf ihre Wände malten. Indem sie sie abbildeten, überwanden sie ihre Angst vor ihnen. Dasselbe habe ich später in Mailand mit dem Tonbandgerät gemacht, als ich an »Fontana Mix« arbeitete. Die vielen Möglichkeiten, die es mir eröffnete, beunruhigten mich, also setzte ich mich am ersten Tag einfach hin und fertigte von dem ganzen Gerät eine Zeichnung an.

Das entdämonisierte es sozusagen für Sie.

Richtig. Das stimmt.

Warum haben Sie nun für »Imaginary Landscape No. 4«, statt eines Radios zwölf genommen?

Darauf gibt es sehr viele mögliche Antworten; welche mir zu der Zeit im Kopf herumging, weiß ich nicht mehr. Vielleicht die, daß die Oktave zwölf Töne hat, oder die zwölf Apostel oder sonst etwas. Es schien einfach eine angemessene Zahl zu sein.

Hatten Sie nicht fü rjedes Radio zwei Leute, die es bedienten?

Genau. Einen, der die Sender wählte, und einen, der Höhen und Tiefen sowie die Lautstärke des Klanges regulierte.

Und welche Instruktionen gaben Sie ihnen?

Die einzelnen Partien waren als, wie wir es nennen, Mensuralnotation niedergeschrieben, wo die Noten in den räumlichen Intervallen verzeichnet sind, in denen sie zeitlich gespielt werden sollen. Die Zwischenräume verändern sich hier allerdings je nach accelerando und ritardando, so daß es sich um ein Mittelding zwischen konventioneller Notation und, Mensuralnotation handelt. Bei »The Music of Changes« [1951] ist es dasselbe, es ist im Zweizweitel- oder Viervierteltakt geschrieben. Die Zwischenräume werden eingehalten, so daß man irrationale Notenbruchteile in ihnen aufzeichnen kann, indem man sie ausmißt. So kann ich zum Beispiel von einer Note, die zwei Fünftel einer Viertelnote beträgt, zur nächsten übergehen, die ein Drittel einer halben Note lang ist, und so weiter, und jedes einzelne Teilstück ausmessen. Wegen des Messens braucht man keine ganzen Takteinheiten einzuhalten, sondern es können auch völlig unregelmäßige Werte herauskommen.

Was bei einer rein musikalischen Notation nicht so einfach ist.

Nein, aber ich habe trotzdem auch noch mit Viertelnoten und halben Noten gearbeitet sowie mit halben Noten, über denen Brüche standen, was sehr eigenartig aussah. Später, als sich David Tudor zur Überwindung der Notationsprobleme bestimmte mathematische Formeln angeeignet hatte, die sich erfolgreich anwenden ließen, gab ich jegliche Metrik auf und arbeitete direkt nach dem Prinzip Intervall gleich Zeit, was das Schreiben neuer Musik sehr erleichtert hat.

Waren die 24 Leute an den Radios Musiker?

ja. Sie konnten alle Noten lesen, und es gab auch einen Dirigenten, der einen Viervierteltakt schlug.

Wer war das?

Das war ich.
Ich erinnere mich, daß es mit der Tageszeit der Aufführung etwas Besonderes auf sich hatte.
In der ersten Aufführung war fast kein Ton zu hören. Zwei meiner damaligen Freunde, Henry Cowell und Virgil Thomson, schrieben das der Tatsache zu, daß sie spät nachts stattfand – es war fast Mitternacht. Ich wußte jedoch, daß das Stück nahezu tonlos war, weil ich mit Zufallsoperationen gearbeitet hatte, und daß auch am hellichten Tage nur wenige Töne zu hören sein würden.

Weil die Lautstärkeregler immer ...

... sehr niedrig eingestellt wären.

Was ist mit Ihren anderen Werken für Radio aus der Zeit?

Eins heißt »Radio Music« [1956], und welches war das andere ...

»Speecb« [1955], »für fünf Radios und Nachrichtensprecher«, heißt es in Ihrem Katalog.

Ach ja, »Speech«. Nun, diese Stücke sind ein bißchen anders, aber »Radio Music« schrieb ich hauptsächlich den Leuten zum Gefallen, die sich über »Imaginary Landscape No. 4« aufgeregt hatten, weil es so leise war. Ich habe vergessen, wie ich dabei vorging, aber man konnte es jedenfalls auch laut spielen.

Wann arbeiteten Sie zum ersten Mal mit einem Tonband?

Das muß Ende der 40er Jahre in Paris gewesen sein, als ich Pierre Schaeffer kennenlernte, der sich als erster vom musikalischen Standpunkt her ernsthaft mit dem Tonband beschäftigte. Er unternahm alle möglichen Anstrengungen, mich für eine Arbeit in dieser Richtung zu interessieren, aber ich war irgendwie noch nicht soweit. Ich war dabei ... Also, ich schrieb gerade »String Quartet« [1950] und hatte zuvor »Sonatas and Interludes« [1948] komponiert. Ich war dabei, Musik nicht mehr als Struktur, sondern als Prozeß zu begreifen, und fing daher an, Zufallsoperationen beim Komponieren einzusetzen ... ich hätte vielleicht besser mit Schaeffer zusammenarbeiten können, aber ich tat es nicht. Die Sache war mir damals noch nicht so richtig klar.

Wegen der Notationsprobleme?

Nein, ich konzentrierte mich zu der Zeit einfach af andere Probleme, so daß ich gegenüber der Idee von Musik auf Tonband nicht so offen war, wie, ich es vielleicht hätte sein sollen. Das war 1949.

Als ich 1952 mit David Tudor und Earle Brown zusammenarbeitete, komponierten wir mehrere Stücke – Earie, ich, Christian Wolff und Morton Feldman schrieben je ein Werk, wobei Paul Williams uns finanziell unterstützte. Ich schrieb damals den »Williams Mix« [1953]. Während dieser Arbeit faszinierten uns die vielfältigen Möglichkeiten des Tonbandes. Deswegen war ich auch so bedacht darauf, sie nicht allein, sondern mit anderen zusammen auszuschöpfen, weil jeder einen unterschiedlichen Aspekt würde einbringen können, und das war auch tatsächlich der Fall. Feldman arbeitete an seiner ersten »Graph Music«, und es war einfach unglaublich, wenn er auf seinem Millimeterpapier bei einem Quadrat mit der Nummer, sagen wir, 1097 ankam. Das bedeutete, daß wir ein Stück bespieltes Tonband in 1097 Fragmente zerschneiden und dann an derselben Stelle wieder in das Band einsetzen mußten. Ich war damals für alles Neue sehr aufgeschlossen und interessierte mich für das Schneiden von Bändern, also die technische Herstellung von Musik. Ich entdeckte verschiedene Möglichkeiten, den Klang nicht durch Regler, sondern durch das tatsächliche Schneiden des Tonbandes zu verändern.

Zum Beispiel?

Also normalerweise läuft das Band horizontal am Tonkopf entlang, aber wenn man es schneidet und dann diagonal wieder einsetzt...

Das heißt, Sie mußten es in so kleine Stücke schneiden, daß diese nicht länger waren als die normale Breite des Bandes.

Ja, aber man konnte ganz wunderbare Klänge erzeugen, wenn man es in einem 45-Grad-Winkel anlegte.

Das ist bestimmt eine ungeheuer akribische Arbeit.

Ja, und ich benutzte Zufallsoperationen, so daß ich bei einem Viertelzollband von senkrechten Schnitten bis zu schrägen Schnitten von zehn Zentimetern alles Mögliche ausführen konnte.

Das muß Jahre gedauert haben.

Nein, mit Unterstützung dauerte es etwa ein Jahr, »Williams Mix« zu schneiden, das dann selbst etwas über vier Minuten lang war. (Richard Kostelanetz, 1984)
Angesichts unserer heutigen elektronischen Einrichtungen, mit denen sich leicht, wesentlich längere und, wenn ich so sagen darf, wesentlich vielseitigere Musikstücke produzieren lassen, stellt sich die Frage, ob diese [anstrengende] Methode gerechtfertigt ist. Nun ja, vielseitiger sind die heutigen Musikstücke vielleicht nicht – »Williams Mix« ist für seine vier Minuten eigentlich sehr abwechslungsreich. Es kann sein, daß man die Variationen in »Williams Mix«, die durch das Schneiden entstanden sind, durch Computerprogramme erreichen könnte; nicht mit Reglermanipulationen, glaube ich, aber mit Computerprogrammen. (Bill Shoemaker, 1984)

Sie wissen, daß ich »Williams Mix« für Ihr am meisten unterschätztes Meisterwerk halte.

Nun, es ist ein interessantes Stück. Ein Grund dafür, daß es so wenig gespielt wird, ist der, daß die Partitur fast 500 Seiten umfaßt und deshalb nie vervielfältigt wurde. Das Original ist bei Peters, glaube ich. Das Kopieren käme zu teuer; deshalb kennen es wohl nicht sehr viele Leute. Ich habe es in den Notizen zum Town-Hall-Programm illustriert.

Dem Album zum 25. Jahrestag.

Eine Seite sieht aus wie ein Schnittmuster für Kleider – sie zeigt genau, wo das Band geschnitten werden soll. Man legt das Band direkt auf die Partitur.

Im Verhältnis eins zu eins?

Eins zu eins, ja.

Also hat das Tonband eine Länge von 500 Buchseiten.

Ja, auf jeder Seite sind 50 Zentimeter Band, aufgeteilt in zweimal 25, die einer Spieldauer von etwas über einer Sekunde entsprechen.

In der Illustruation sind sie auf einer Seite jeweils übereinander abgebildet. Ihre Idee ist die, daß man diese Partitur auch zum Schneiden anderer Bänder als der von Ihnen benutzten verwenden kann.

Eine der Seiten hat ein Loch, das durch eine brennende Zigarette entstand. Ich war damals ein starker Raucher.

Für mich sind zwei der besonderen Qualitäten von »Williams Mix« seine beispiellose Klangbreite und die Schnelligkeit der Tonfolge.

Richtig. Was so faszinierend war an den Möglichkeiten des Tonbands, war die Tatsache, daß eine Sekunde, also ein Zeitraum, der uns immer relativ kurz erschienen war, zu einem Gebilde von fast 40 Zentimetern Länge wurde, das man in Einzelteile zerschneiden konnte. Morty Feldman gab uns, wie ich schon sagte, ein etwa sieben Zentimeter langes Stück vor, das 1097 Töne enthalten sollte, und wir schafften es tatsächlich.

Auf sieben Zentimetern?

Das entspricht etwa einer 60tel Sekunde, die wir aus 1097 Fragmenten zusammensetzten.

Ohne zu mixen? Sie meinen, nur aus kleinen Tonbandschnipseln?

Aus kleinen Tonbandschnipseln.

Das ist unmöglich.

Nein, nein, wir schafften es.

Wie?

Durch Abzählen, mit der Hand.
Meine nächste Erinnerung an ein Radioprojekt hängt mit der Einladung von Frans van Rossum zusammen, in Amsterdam die Veranstaltung »Sounday« zu machen. Sie war so außergewöhnlich, daß ich akzeptierte; außergewöhnlich, wel es eine Rundfunkübertragung mit nur einer Ansaga am Beginn, am Schluß und in der Mitte werden sollte. Das war alles. Sonst gab es keinerlei Unterbrechung. Also plante ich die Stücke für Grete Sultan, die »Etudes Australes«, für Klavier, und »Branches«, die ganzen Pflanzensachen mit Kakteen und so weiter für den Vormittag ein; und für den Nachmittag sah ich die »Freeman Etudes« für Violine vor.

Wurden die Stücke gleichzeitig oder abwechselnd gespielt?

Am Vormittag wurde hauptsächlich »Branches«, gespielt, das hin und wieder durch eine Klavieretüde unterbrochen wurde. Das Bild, das ich dabei im Kopf hatte, war das von einem Vergnügungspark, wo man in einem Boot durch dunkle Tunnel fährt und ab und zu etwas aufleuchtet, irgendein Bild. Und am Nachmittag verwandelte sich der Tunnel »Branches« in die »lnlets«, das Glucksen mit Wasser gefüllter Muschelschalen, und was zwischendurch zu hören war, waren keine Klavieretüden, sondern die »Freeman Etudes«, gespielt von Paul Zukofsky, und zum Ende hin dann die Stimme von Demetrio Stratos, der die »Mesostics re and not re Merce Cunningham« sang.

Was geschah live, und was war vorher aufgenommen worden?

Es war alles live. Das Ganze war eine offene Veranstaltung, die den ganzen Tag über von den Amsterdamern besucht werden konnte. Nach der Aufführung traf ich Klaus Schöning, der von Frans van Rossum gehört hatte, daß ich ein »Writing through Finnegans Wake« geschrieben hatte, und er fragte mich, ob ich bereit sei, es für sein Hörspielprogramm in Köln vorzulesen, und ich sagte ja. Danach, als ich wieder in den Vereinigten Staaten war, bekam ich einen Brief, von ihm, in dem er mich fragte, da ich doch bereit sei, es zu lesen, ob ich nicht auch eine Begleitmusik dazu schreiben wollte, und ich sagte wieder ja, und so entstand »Roaratorio«. (Richard Kostelanetz, 1984)
Der vollständige Titel ist »Roaratorio, an Irish Circus on Finnegans Wake«. Ich arbeitete mit John Fullemann zusammen, einem Tonspezialisten, und wir benutzten das Studio von IRCAM in Paris. Den Computer haben wir nicht eingesetzt, aber sämtliche Vorteile der 16-Spur-Geräte und so weiter haben wir wahrgenommen. Zum Schluß hatten wir ein Stück mit 64 Spuren. Es ist sehr, sehr kompakt, sehr dicht. Im Januar fanden ein paar Aufführungen statt, bei denen ein paar Spuren gelöscht und durch Aufnahmen irischer Musiker und meiner Stimme ersetzt wurden. Ich las meinen Text, der »Writing for the Second Time through Finnegans Wake« heißt. Er wurde sozusagen als Lineal an die Zeit angelegt. Mit Lineal meine ich, daß man meinen Text mit bestimmten Seiten und Zeilen von Finnegans Wake in BezieWüng setzen konnte. Und dann gab es ein Buch, in dem eine Liste sämtlicher Orte in »Finnegans Wake« veröffentlicht war, eine sehr große Menge von Orten, die ich auf eine angemessene Anzahl reduzierte. Für angemessen hielt ich, glaube ich, die Seitenzahl des »Wake«, und die beträgt 626. Und das Buch verzeichnete wohl so 4000 bis 5000 Orte. Also wählten wir davon 626 aus und nahmen dort Geräusche auf. Diese Orte sind über die ganze Welt verstreut, aber die meisten liegen in Irland. Das gab mir die Gelegenheit, eine zufallsbestimmte Reise durch Irland zu machen, die sehr, sehr angenehm war. Sie dauerte einen Monat. Dann brauchten wir einen weiteren Monat für die Montage dieser und weiterer Geräusche, die aus anderen Teilen der Welt oder aus dem Archiv des Westdeutschen Rundfunks stammten. Von diesem Sender, dem Holländisch-Katholischen Rundfunk und dem Süddeutschen Rundfunk war das Stück in Auftrag gegeben worden.

Welche Art von Tönen wählten Sie an den jeweiligen Orten?

Wenn wir an einen Ort kamen, suchten wir nach einem Geräusch, das typisch für ihn war, das heißt, ein Geräusch, das es woanders möglichst nicht gab. Das Geräusch, das auf der ganzen Welt vorherrscht, ist das des Autoverkehrs. Und deshalb ... Obgleich auch das auf den Bändern zu hören ist, waren wir bestrebt, andere Töne zu finden. Sehr gern nahmen wir das Geräusch von Vögeln und Wasserläufen oder Hunden, Hühnern, Babys und Kindem auf. Und dann ging ich noch einmal den »Wake« durch und listete alle Wörter und Redewendungen auf, die auf Geräusche anspielten. Ich nannte das – es ist ein langes Verzeichnis – »Listing through Finnegans Wake«. Das mußte dann ebenfalls noch erledigt werden, das Aufnehmen dieser Geräusche. Und auch sie wurden mit Seiten- und Zeilenzahl versehen, ebenso die Orte. Über das Ganze wurde dann ein Klangteppich aus traditioneller irischer Musik und meinem Vortrag des Textes gelegt. Wir nahmen so viele Klänge, wie wir im Zeitraum eines Monat aufnehmen konnten und dann beendeten wir die Aufnahmen an einer willkürlich gewählten Stelle, denn wenn wir weitergemacht und jedes Geräusch aufgenommen hätten, säßen wir wahrscheinlich heute noch bei der Arbeit. Die Idee, einfach aufzuhören, kam mir beim Gedanken an die Venus von Milo, die sehr gut auch ohne ihre Arme auskommt; man könnte sich prinzipiell vorstellen, daß etwas in jedem Stadium beendet werden kann, vorausgesetzt, daß alle Teilelemente gleichmäßig berücksichtigt wurden. In diesem Fall waren die Teilelemente zwei sechzehn-spurige Bänder, und die Arbeit... die in, ein Verhältnis zu der Liste und den Orten gesetzt wurden. Wir hatten also die Bänder – man
könnte sie A und B nennen – und dann diese beiden Arbeiten, eins und zwei, und die irische Musik, die nicht viel Aufwand erforderte; sie war in Irland aufgenommen worden. Und das Aufnehmen meines Vortrages dauerte bloß einen Tag. Also hatten wir etwas über drei Wochen Zeit, die wir zwischen Al, A2, Bl und B2 aufteilen mußten; und diese Aufteilung erfolgte gleichmäßig, indem wir für jede einzelne Teilarbeit dieselbe Anzahl von Tagen aufwendeten.

Und dann wurde das Ganze durch Zufallsoperationen strukturiert?

Die Reihenfolge der Geräusche stand fest; sie richtete sich nach dem Buch. Aber die anderen Variablen wurden durch Zufallsentscheidungen festgelegt: wie laut die Geräusche sein sollten und ob sie kurz, mittellang oder lang zu hören sein sollten. Diese Einteilung war nicht präzise, sondern nur sehr erob. Mit Zufallsoverationen entwickelte ich eine Vorgabe, und John Fullemann entschied ... wenn das Geräusch ertönte, entschied er, was seiner Meinung nach kurz oder mittellang oder lang zu hören sein sollte.
Ich glaube, daß Valérys Bemerkung, ein, Kunstwerk werde niemals abgeschlossen, sondern einfach abgebrochen, bestimmt auf »Finnegans Wake«, zutrifft. In unserem Fall brachen wir »Roaratorio« pünktlich zum Abgabetermin ab. Bei IRCAM war man sehr überrascht. Ich bin sicher, die Leute, die dort arbeiten, vertrödeln erstmal eine gewisse Zeit und erwarten dann, daß der Termin am Ende um einige Tage verlängert wird. Wir dagegen machten uns an die Arbeit, sobald wir angekommen waren, und hielten ganz normale Arbeitszeiten ein, wissen Sie, acht Stunden oder so. Und am Schluß fragten sie mich tatsächlich, ob ich länger bleiben wollte. Ich sagte nein, wir seien fertig, denn wir hatten vorgehabt, Ende des Monats aufzuhören. (Andrew Timar, 1981)
Jede Szene [in »Alphabet« (1982)] hat ihre eigenen Besonderheiten, was die darin verwendeten Mesosticha, Ideen und Zeichen angeht. Zufallsoperätionen wurden auf ein Wörterbuch und ein Konversationslexikon angewendet, um verschiedene Zeichen und Bühnenrequisiten festzulegen. Später dann, als mir klar wurde, daß es schön wäre, auch Begleitmusik oder -geräusche zu haben, wie immer Sie es nennen wollen, bestimmte ich diese Geräusche auch mit Hilfe des Alphabets.

Wie kamen Sie zu diesen Tönen, die Sie als »rational« und als »irrational« bezeichnen?

Rationale Töne sind Klangeffekte. Wenn zum Beispiel in einer Szene die Tür geöffnet wird, so ist das Geräusch des Türöffnens rational. Das Geräusch eines Papageien dagegen wäre in derselben Szene, wenn von einem Papageien überhaupt nicht die Rede ist, ein irrationaler Ton. Ein solches Geräusch würde aber dann vorkommen, wenn man nicht nur den Buchstaben P bestimmt hätte, sondern anschließend die Seiten des Wörterbuchs gezählt, sie Zufallsoperationen unterworfen hätte und dann auf zwei so bestimmten
sich gegenüberliegenden Seiten einen Klang festlegen würde. Und wenn da »Papagei« stünde, könnte man das Geräusch eines Papageis verwenden oder was da sonst noch steht – »Pumpe« vielleicht, eine
Wasserpumpe. Und so können die irrationalen Töne überall in einer Szene auftauchen – nämlich an einem zufallsbestimmten Punkt. Die rationalen Töne dagegen können entweder da vorkommen, wo sie hingehören, oder an irgendeiner anderen Stelle.

Manchmal illustrativ und manchmal nicht illustrativ.

Oder manchmal sind sie einfach nur da. Wenn zum Beispiel auf der Bühne jemand sagt: »Das Telefon klingelt«, könnte das Telefon genau in dem Moment klingeln – in dem Fall wäre es rational –, oder es könnte schon vorher klingeln; dann würde man bei den Worten »das Telefon klingelt« sagen: »ja, ich weiß, daß das Telefon klingelt.« Oder wenn es klingelt, nachdem man diesen Satz gesagt hat, fängt man an, sich zu erinnern. Das ist das buddhistische Prinzip: Alles steht in Verbindung...

Mit allem?

Selbst irrationale Dinge haben zum Glück eine Beziehung zu rationalen Dingen.

Ihr erster Gedanke war, wie Sie mir erzählten: »Bitte findet ein chinesisches Kind, das Deutsch sprechen kann.« Buckminster Fuller spielte mit, dann waren da George Brecht und Teeny Duchamp, und Sie selbst haben den Part von James Joyce gesprochen.

Ich glaube, es gibt eine starke Tendenz beim Theater, keine Schausp,ieler, sondern Leute, die sich selbst spielen, einzusetzen. Ich glaube, es fing mit Saroyan an. Statt zum Beispiel einen Schauspieler als Straßenbahnschaffner auftreten zu lassen, überlegte er sich, einen echten Straßenbahnschaffner zu nehmen. Oder statt irgend jemanden Buckminster Fuller spielen zu lassen, wollte er ihn selbst auf die Bühne bringen.
Allerdings gibt es hierbei ein Problem mit den Toten, den Geistern, die von lebenden Menschen repräsentiert werden müssen, wenn man nicht – aber das ist noch nie vorgekommen – ein Medium hat, das in Trance fällt und mit fremden Zungen spricht...

Sie haben also den Part von James Joyce gesprochen.

Das kam daher, weil ich so großes Vergnügen daran habe, aus »Finnegans Wake« zu lesen.

Sie sprachen also echte Joyce-Zitate und außerdem fiktive Sätze, die Joyce gesagt haben könnte. Und dann – das halte ich für eine brillante Idee – machten Sie aus Ihrem Freund Marcel Duchamp zwei Rollen.

Zwei Personen. Nun ja, das tat er eigentlich selbst. Ich weiß nicht, ob er zustimmen würde, aber seine Schriften habe ich seinem weiblichen Alter ego Rrose Selavy zugeordnet; und dann war das, was er nicht geschrieben hatte, sondern einfach nur sagte, meiner Meinung nach konsequenterweise Sache des männlichen Parts. (Klaus Schöning, 1982)



Quelle: Richrad Kostelanetz, Conversing with John Cage, New York, 1988, zitiert nach
Richard Kostelanetz, John Cage im Gespräch zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit, aus dem Amerikanischen von Almuth Carstens und Birger Ollrogge, Köln, 1989, S. 109–123.