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John Cage
»Komposition als Prozeß. Teil II: Unbestimmtheit«

[Auszug]

Dies ist ein Vortrag über Komposition, deren Aufführung nicht festgelegt ist. Solche
Komposition ist notwendigerweise experimentell. Eine experimentelle Aktion ist eine solche, deren Ergebnis nicht absehbar ist. Da die Aktion nicht absehbar ist, ist sie nicht um ihre Entschuldigung bekümmert. Wie die Erde, wie die Luft: sie bedarf nichts. Die Aufführung einer Komposition, deren Aufführung nicht festgelegt ist, ist einmalig. Sie kann nicht wiederholt werden. Wird sie ein zweites Mal aufgeführt, ist das Ergebnis ein anderes als zuvor. Nichts wird also durch eine solche Aufführung erreicht, da die Aufführung als Objekt in der Zeit nicht begriffen werden kann. Die Aufnahme eines derartigen Werks ist nicht wertvoller als eine Groschen-Postkarte; sie vermittelt Wissen um etwas, das sich begeben hat, wohingegen die Aktion das Nicht-Wissen um etwas war, das sich noch nicht begeben hatte.
Gewisse praktische Dinge zur Aufführung einer Musik, deren Komposition die Aufführung unbestimmt läßt, sind zu untersuchen. Diese Dinge betreffen den physischen Raum der Aufführung. Diese Dinge betreffen auch die physische Zeit der Aufführung. In Verbindung mit dem physischen Raum der Aufführung und sofern diese mehrere Spieler (zwei oder mehr) voraussetzt, ist es aus verschiedenen Gründen ratsam, die Spieler weit auseinanderzusetzen, so weit als dies tunlich ist und mit der Aktion und der architektonischen Situation übereinstimmt. Diese Trennung ermöglicht es den Tönen, aus ihren je eigenen Zentren hervorzugehen, auch dergestalt wechselseitig sich zu durchdringen, daß sie nicht von der europäischen Harmonielehre und Theorie über Tonbeziehungen gestört werden. Im Falle der harmoniösen Ensembles der europäischen musikalischen Konvention war klangliche Verschmelzung wesentlich, und daher wurde ein Ensemble von Spielern so nahe zusammen wie möglich gesetzt, auf daß ihre Aktionen, Genesis eines Zeitobjekts, wirksam seien. Im Falle der Aufführung von Musik jedoch, deren Komposition hinsichtlich ihrer Aufführung unbestimmt ist, so daß die Aktion des Spielers Genesis eines Prozesses ist, ist klangliche Verschmelzung nicht wesentlich. Die Nichtstörung der Töne ist wesentlich. Die räumliche Trennung der Spieler ist im Falle eines Ensembles nützlich, um diese Nichtstörung und wechselseitige Durchdringung hervorzubringen, die wesentlich ist. Überdies wird die räumliche Trennung die unabhängige Aktion jedes Spielers erleichtern, der, indem er nicht zur Ausführung einer aus einer Partitur ausgezogenen Stimme eingespannt sich findet, seinen Geist in Richtung auf was auch immer lenkt. Die Möglichkeit besteht, daß Leute, wo sie in Mengen zusammengepfercht sind, eher wie Schafe denn würdig handeln. Darum wurde gesagt, daß die räumliche Trennung die unabhängige Aktion seitens jedes Spielers erleichtert. Töne werden dann aus Aktionen hervorgehen, die ihrerseits eher aus ihren eigenen Zentren denn als motorische oder psychologische Wirkungen aus anderen Aktionen und Tönen der Umgebung hervorgehen. Die musikalische Anerkennung der Notwendigkeit des Raums ist verspätet im Vergleich mit dieser Anerkennung seitens der anderen Künste, nicht zu reden von der wissenschaftlichen Anerkennung. Es ist in der Tat erstaunlich, daß Musik als Kunst die ausführenden Musiker so lange zu Gruppen zusammenpferchte. Es ist höchste Zeit, die Spieler voneinander zu trennen, um die musikalische Anerkennung der Notwendigkeit des Raumes zu zeigen, welche von den anderen Künsten schon anerkannt wurde, nicht zu reden von der wissenschaftlichen Anerkennung. Angezeigt ist im Falle eines Ensembles im Raum auch eine andere Verteilung der Spieler denn jene konventionelle, welche sie nur immer am einen Ende des Konzertsaals zusammenpfercht. Die Spieler wird man im Falle eines Ensembles im Raum sicherlich um diesen herum setzen. Oft ist die konventionelle Architektur nicht passend. Geboten wäre vielleicht eine Architektur gleich Mies van der Rohes Architekturschule am Illinois Institute of Technology: viel solcher Architektur möchte nützlich sein für die Aufführung von Musik, die hinsichtlich ihrer Aufführung unbestimmt ist. Auch werden die Spieler nicht etwa nun in der Mitte des Raums zusammengepfercht werden. Sie müssen mindestens getrennt um die Hörer herumsitzen, wo sie nicht gar, indem sie ihre Verteilung im realistischsten Sinne annähern, zwischen diesen Platz nehmen. In diesem letzten Falle wird die weitere Trennung der Spieler und Hörer untereinander die unabhängige Aktion ihrer aller erleichtern, was Mobilität seitens aller in sich begreift.
Gewisse praktische Dinge zur Aufführung von Musik, deren Komposition hinsichtlich ihrer Aufführung nicht festgelegt ist, sind zu untersuchen. Diese Dinge betreffen den physischen Raum der Aufführung. Diese Dinge betreffen auch die physische Zeit der Aufführung. In Verbindung mit dem physischen Raum der Aufführung und sofern diese mehrere Spieler (zwei oder mehr) voraussetzt, ist es aus verschiedenen Gründen ratsam, dem Dirigenten eine andere Funktion zu geben denn die, den Takt zu schlagen. Jene Situation von Tönen, die aus Aktionen hervorgehen, welche ihrerseits aus ihren eigenen Zentren hervorgehen, wird sich nicht herbeiführen lassen, wenn der Dirigent den Takt schlägt, um die Aufführung zu vereinheitlichen. Auch wird diese Situation von Tönen, die aus Aktionen hervorgehen, welche ihrerseits aus ihren eigenen Zentren hervorgehen, sich nicht herbeiführen lassen, wenn verschiedene Dirigenten verschiedene Takte schlagen, um eine komplexere Vereinheitlichung der Aufführung zustande zu bringen. Den Takt zu schlagen, ist nicht notwendig. Notwendig ist einzig eine leichte Andeutung der Zeit, die vom Schielen auf eine Uhr oder den Dirigenten gewonnen werden mag, der durch seine Aktionen eine Uhr vorstellt. Wo eine richtiggehende Uhr verwendet wird, wird es möglich, die Zeit vorauszusehen, und zwar infolge des stetigen Fortschreitens des Sekundenzeigers von Sekunde zu Sekunde. Wo jedoch der Dirigent, der durch seine Aktionen eine Uhr vorstellt, die nicht mechanisch, sondern variabel geht, zugegen ist, ist es nicht möglich, die Zeit vorauszusehen, und zwar infolge des wechselvollen Fortschreitens der Angaben des Dirigenten von Sekunde zu Sekunde. Wo dieser Dirigent, der durch seine Aktionen eine Uhr vorstellt, derart sich verhält in bezug auf eine Stimme, nicht auf eine Partitur, in der Tat nämlich auf seine eigene Stimme, nicht auf die eines anderen, werden seine Aktionen mit denen der Spieler des Ensembles auf eine Weise wechselseitig sich durchdringen, die diese Aktionen nicht stört. Die musikalische Anerkennung der Zeit ist verspätet im Vergleich zu dieser Anerkennung seitens der Radioübermittlung, des Fernsehens, nicht zu reden vom Magnettonband, wie erst vom Luftverkehr, von Abfahrt und Ankunft, von wo auch immer und wo immer auch hin, wann auch immer wo immer auch hin und zu welcher Zeit dies alles, nicht zu reden von der Telefonie. Es ist in der Tat erstaunlich, daß Musik als Kunst die ausführenden Musiker so lange dazu anhielt, den Takt zusammen zu schlagen gleich vielen Reitern, die auf dem Rücken eines einzigen Pferdes sich zusammengepfercht fänden. Es ist höchste Zeit, die Töne zur Zeit unabhängig von Schlägen erklingen zu lassen, um die musikalische Anerkennung der Zeit zu zeigen, welche von Radioübermittlungen und dem Fernsehen schon anerkannt wurde, nicht zu reden vom Magnettonband und gar vom Luftverkehr, von Abfahrt und Ankunft, von wo auch immer und wo immer auch hin, wann auch immer wo immer auch hin und zu welcher Zeit dies alles, nicht zu reden von der Telefonie.
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Quelle: Auszug aus dem Vortrag »Indeterminacy« (Unbestimmtheit), Teil 2 von »Composition as Process« (Komposition als Prozeß), den John Cage am 8. September 1958 in Darmstadt über seine »Music of Changes« hält. Die Längen der einzelnen Paragraphen und Pausen werden vom Zufall festgelegt. Wird der Vortrag im Takt gelesen, dauert er genauso lang wie das Musikstück. Erstmals veröffentlicht in: John Cage, Silence, Wesleyan University Press, Middletown Conn., 1961, S. 35–40. © John Cage Trust und Internationales Musikinstitut Darmstadt für die deutsche Übersetzung.