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ThemenMedienkunst im ÜberblickGesellschaft
Soziale Technologien
Dekonstruktion, Subversion und die Utopie einer demokratischen Kommunikation
Inke Arns[1]

http://www.mediaartnet.org/themen/medienkunst_im_ueberblick/gesellschaft/

Als das vielleicht beste Beispiel einer gesellschaftsverändernden Kunst seit den 1960er Jahren kann der Künstler Joseph Beuys gelten. Im Gegensatz zu einem rein formalästhetisch begründeten Kunstverständnis schließt das von ihm vertretene Konzept der »Sozialen Plastik« »dasjenige menschliche Handeln mit ein, das auf eine Strukturierung und Formung der Gesellschaft – Beuys spricht vom ›sozialen Organismus‹ – ausgerichtet ist«.[2] Kunst beschränkt sich in diesem Verständnis nicht auf materielle Artefakte, sondern ist auch und vor allem auf soziale Konsequenzen hin reflektierte Handlung. Mit der Idee, plastisches Gestalten auf gesellschaftspolitische Aktivitäten zu beziehen, knüpft Beuys an die sozialutopischen Vorstellungen der historischen Avantgarde an.

Während Beuys die Einbeziehung und Verwendung von Medien dabei jedoch gar nicht oder nicht vorrangig interessierte, haben sich viele KünstlerInnen seit den 1960er Jahren nicht nur explizit mit Medien auseinandergesetzt, sondern diese auch für konkrete gesellschaftspolitische Ziele eingesetzt. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass in einer zunehmend durch Medien beeinflussten Gesellschaft eine (künstlerische)Veränderung der Medieninhalte oder der Medienstrukturen zu einer signifikanten Demokratisierung der Gesellschaft beitragen kann.

Hinter dieser Vorstellung steht letztendlich die Hoffnung, dass Kunst die Gesellschaft verändern kann. Der Titel »Soziale Technologien« versucht dabei, die ambivalente Bedeutung von ›(neuen) Medien‹ oder ›(neuen) Technologien‹ zu fassen, die von Künstlerinnen und Künstlern, die mit diesen Medien oder Technologien arbeiten, thematisiert wird. Sie fragen einerseits, inwieweit Technologien zur sozialen Konditionierung eingesetzt werden, die sich in Begrenzungen, Beschränkungen, Überwachung und Kontrolle des Zugangs äußert. Gleichzeitig untersuchen sie, inwieweit sich diese Medien und Technologien für die Schaffung neuer sozialer und gesellschaftlicher Verbindungen und Strukturen einsetzen lassen und sich somit in ihr Gegenteil verkehren können. Die Utopien hinsichtlich einer gesellschaftlichen Funktion von Medien richten sich dabei – vielleicht mit Ausnahme von Nam June Paiks »Global Groove« – nicht mehr vorrangig auf das Fernsehen, sondern auf alternative, von den Massenmedien unabhängige Medienkanäle. Analytische Dekonstruktion, Subversion und Aufbau alternativer Produktions- und Distributionskanäle stellen dabei in den 1970er Jahren nur einige der »postutopischen Strategien«[3] in Bezug auf das Fernsehen dar, die in diesem Text anhand wichtiger künstlerischer Beispiele exemplarisch vorgestellt werden sollen. Medienkünstlerinnen und -künstler betreiben analytische Dekonstruktionen des Massenmediums Fernsehen mit den Mitteln der Kunst (Dan Graham, Dara Birnbaum, Klaus vom Bruch, Marcel Odenbach).[4] Außerdem bedienen sie sich subversiver Strategien bei der künstlerischen Besetzung von Nischen in der expandierenden Medienlandschaft (Paul Garrin, Brian Springer) und versuchen, eigene Produktionskontexte und Distributionsmedien zu entwickeln (Rabotnik TV, Kanal X). Wie jedes neue Medium weckt auch das Medium Video die Hoffnung auf künstlerische Freiräume und eine Revolutionierung der Produktionsmittel. Viele medienkünstlerische Projekte der 1970er Jahre zielen daher konsequent auf eine Umwandlung der Sender-Empfänger-Struktur ab – eine Forderung, die schon Bertolt Brecht in seiner »Radiotheorie« in den 1930er Jahren erhoben hatte.Hans Magnus Enzensberger aktualisiert diese 1970 in seinem Text »Baukasten zu einer Theorie der Medien«. Zu Beginn der 1970er Jahre beginnt auch eine Reihe feministischer Künstlerinnen mit dem Medium Video zu arbeiten (Ulrike Rosenbach, Valie Export und andere). Video als neues, noch nicht durch starre Regeln und Traditionen belastetes Medium gilt in diesem Kontext als ideales Medium der Emanzipation. In den 1980er Jahren wird jedoch klar, dass das Medium Video die in es gesetzten Hoffnungen alternativer Medienkanäle nur zu einem geringen Maß hat erfüllen können. Mit dem Internet und den digitalen Medien kommen Anfang der 1990er Jahre neue Medien auf, welche auf Grund ihrer technischen Struktur und der relativ guten Verfügbarkeit des Zugangs erneut Brechts Utopie eines genuinen »Kommunikationsapparates« in greifbare Nähe rücken lassen. Während der (künstlerische) Netzaktivismus der 1990er Jahre in vielem an die gesellschaftlichen bzw. gesellschaftskritischen Projekte der 1970er und 1980er Jahre anschließt, hebt er sich doch durch seine globale Reichweite ab, die mit der Kommunikation über das Internet erstmals möglich geworden ist.

Vorläufer: Situationistische Internationale, Burroughs/Gysin, Fluxus

Für politisierte Formen von Medienkunst seit den 1970er Jahren sind insbesondere die Theorien und Praktiken der Situationistischen Internationale, die Cut-up-Techniken von Brion Gysin und William Burroughs sowie die Strategien einiger Vertreter von Fluxus von großer Bedeutung. Besonders die Situationistischen Internationale und Burroughs/Gysin knüpfen dabei deutlich an Techniken und Ziele der historischen Avantgardebewegungen (Dadaismus – hier insbesondere John Heartfield –, Surrealismus) an. Die 1957 aus Lettristen, der Künstlergruppe Cobra und der Bewegung für ein imaginistisches Bauhaus gegründete Situationistische Internationale[5] formulierte unter anderem in der Person von Guy Debord eine radikale Gesellschaftskritik sowie eine radikale Kritik der Mediengesellschaft. Sie lehnte die Schaffung ästhetischer Objekte zugunsten einer Strategie der sozialen Konstruktion von Situationen ab, die nicht auf Kunst, sondern das Leben zielt – und dies lange bevor Happening und Performance im Kunstkontext diskutiertwurden.[6] Im Zentrum von Guy Debords Ende der 1950er Jahre erschienenem »Rapport zur Konstruktion von Situationen« stand »die Forderung, sich nicht mehr auf die Produktion von Kunstwerken zu beschränken, sondern die künstlerische Praxis auf den Stand der technologischen Möglichkeiten in den modernen Industriegesellschaften zu heben«.[7] Die Situationisten prägten das Konzept der Zweckentfremdung (»détournement«) sowie das Konzept des ziellosen Umherschweifens (»dérive«), das eine Kritik an der zeitgenössischen Stadtplanung intendierte. In »Die Gesellschaft des Spektakels« (1967) analysierte Debord in 221 Thesen die Funktionsweise von Macht und Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft. Debords Theorie wird in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zunehmend radikaler und mündet in subversive Aktionen für eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft. Damit werden die Situationisten zu einem wichtigen Impulsgeber des Pariser Mai 68. Der aus einer Studentenrevolte hervorgegangene Generalstreik, die Besetzung von Universitäten und Fabriken brachten den bürgerlichen Staat an den Rand des Zusammenbruchs. Im Kontext des Mai 68 arbeiteten Filmregisseure wie Chris Marker, Alain Resnais und Jean-Luc Godard an der Erstellung anonymer »CINE-Tracts« (Flugblattfilme), die sich in kurzen Montagen von stummen Bildern mit Zwischentiteln an der Aufarbeitung der unmittelbaren Tagesereignisse versuchten und so ein agitatorisch-didaktisches Ziel verfolgten, das an das Vorbild Dziga Vertov erinnert.[8] Godard, der seit seinem Spielfilmdebüt mit »Außer Atem« (1959) als der innovativste und radikalste Vertreter der französischen Nouvelle Vague galt, hatte sich Ende der 1960er Jahre in der Folge des Vietnam-Krieges zunehmend radikalisiert. Er wollte nicht nur »politische Filme machen«, sondern »politisch Filme machen«, »militant« sein (Godard). Gemeinsam mit dem sozialistischen Theoretiker und Ex-Studentenführer Jean-Pierre Gorin gründet er die Gruppe »Dziga Vertov«, um außerhalb des kommerziellen Kinos revolutionäre Filme im Kollektiv zu produzieren.[9] Mit der Gründung des Sonimage-Studios (1973) zusammen mit Anne-Marie Miéville beginnt Jean-Luc Godard als einer der ersten Filmregisseure, sich mit dem Medium Video auseinander zu setzen.[10] Er wendet sich jetzt konkreten Bildernund Tönen zu, die im Alltag ihre Spuren hinterlassen – vorzugsweise Werbeseiten von Illustrierten, Fernsehspots, Ikonen der politischen Berichterstattung. Dieses akustische und visuelle Found Footage kombiniert er mit Sequenzen aus eigenen Filmen, später mit langen, neu gedrehten Interviewpassagen. Godards Ziel ist es nicht nur, sein eigenes Material einer grundlegenden Revision zu unterwerfen, sondern die vorgefundenen Bilder und Töne den sie dominierenden Beschreibungen durch eine omnipräsente Medienmaschinerie zu entreißen und dadurch neu sicht- und hörbar zu machen (Interview 1976).[11]

Ein zweites wichtiges Inspirationsmoment der politischen Medienkunst seit den 1970er Jahren sind die Schriftsteller der so genannten Beat Generation. Am 1. Oktober 1959 erfanden Brion Gysin und William Burroughs, dessen Buch »Naked Lunch« gerade erschienen war, im Beat Hotel in Paris die Technik des Cut-up. Diese Technik besteht darin, vorgefundenes Text- und Audiomaterial willkürlich auseinanderzuschneiden und nach dem Zufallsprinzip wieder zusammenzufügen.[12] Dabei kommen durchaus vollständige Sätze zustande, die teils erheiternden Nonsens enthalten, teils aber auch einen verschlüsselten Sinn zu haben scheinen. Gysin und Burroughs setzten auch Tonbandgeräte ein, deren Bänder von Hand über die Tonköpfe gezogen wurden, so dass auf einmal ganz neue Laute und Wörter zu hören waren. »Es war, als würde ein Virus das Wortmaterial von Mutation zu Mutation treiben«,[13] und Burroughs fand es durchaus naheliegend, in seinen ersten Textmontagen einen Bericht über den Stand der Virusforschung zu verwenden. William Burroughs setzt also einerseits Medien (Tonband) zur Produktion von Texten ein: In der ersten Hälfte der 1960er Jahre publizierte er drei mittels des Cut-up-Verfahrens erstellte Romane: »The Soft Machine«, »The Ticket that Exploded« und »Nova Express«. Darüber hinaus überträgt Burroughs die Technik des Cut-ups auch direkt auf Medienprodukte: auf seine in dieser Zeit entstandenen experimentellen Kurzfilme »Towers Open Fire« (1963) und »The Cut-Ups« (1965). In dem Roman »Nova Express« (1964), der die Cut-up-Methode in ihrer ganzen Radikalität vorführt, stehen Burroughs' Interessen dieser Zeit im Vordergrund: »Sprachtheorie,Verhaltenssteuerung, Gedankenkontrolle, Virus als ominöser Organismus an der Grenze zwischen lebender und toter Materie und Virus als Metapher für die Wirkungsweise von Sprache.«[14] Hier findet sich auch der Ursprung von Burroughs' These »Language is a virus from outer space« (»Sprache ist ein Virus aus dem All«), die Anfang der 1980er Jahre in der Hit- Single der Performancekünstlerin Laurie Anderson unverhoffte Verbreitung finden sollte.[15] Die Literaturkritik des Jahres 1964 war ratlos. Marshall McLuhan jedoch, der im Dezember 1964 Burroughs Cut-up-Romane in einem Essay für die Zeitschrift The Nation analysierte, kam zu dem Schluss, dass diese so etwas seien wie »der Report eines Ingenieurs über das risikoreiche Terrain und die zwanghaften Prozesse des neuen elektronischen Environments«.[16] Burroughs' Verwendung von Medien richtet sich – nach dem Einsatz zur Text- und Filmproduktion in der ersten Hälfte der 1960er Jahre – schließlich in einem dritten Schritt auf eine außerkünstlerische Subversion gesellschaftlicher Prozesse. Um diese von einer allmächtigen Medienmacht ausgehenden, »zwanghaften Prozesse« erfolgreich zu unterlaufen, empfiehlt Burroughs in »The Electronic Revolution« (1971) die subversive Technik des Einspielens von Tonbandaufnahmen in den öffentlichen Raum. Dieses »Playback« soll »ALS EINE FRONTWAFFE ZUR PRODUKTION UND ESKALATION VON UNRUHEN« eingesetzt werden. Burroughs schreibt: »An diesem Vorgang ist nichts geheimnisvolles. Geräusche von Unruhen können in einer geeigneten Situation wirkliche Unruhen hervorrufen. AUFGEZEICHNETE POLIZEI-TRILLERPFEIFEN WERDEN POLIZISTEN ANZIEHEN. AUFGEZEICHNETE SCHÜSSE, UND SIE ZIEHEN IHRE WAFFEN.«[17] Diese ursprünglich aus dem Bereich der psychologischen beziehungsweise subliminalen Kriegsführung stammenden Methoden wurden in den 1980er Jahren von Undergroundmusikgruppen wie Psychic TV und anderen erneut aufgegriffen.[18]

Wichtige Impulse innerhalb der Fluxus-Bewegung sind Wolf Vostells »TV-Décollage«[19] sowie Nam June Paiks Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre, in denen er sich dem Fernsehen analytisch-kritisch nähert und seinen Strukturen anpasst, um mit dem Medium ein breites Publikum zu erreichen. Bereits in seinen ersten Videoarbeiten von 1965 greift er auf Fernsehmaterial zurück, das er mit den damals zur Verfügung stehendenprimitiven Mitteln einer Bearbeitung unterzieht. In »Mayor Lindsay« (1965) wird eine Szene aus einem Fernsehbericht, in dem sich der New Yorker Bürgermeister den Journalisten stellt, in kurzen Sequenzen wiederholt. Da es 1965 noch keine Amateuren zugängliche Videoschnittanlagen gab, erreicht Paik dies durch manuelle Eingriffe in das laufende Videoband, so dass es zu ständigen Verzerrungen, Bildstörungen und -zusammenbrüchen kommt. Auch in späteren Videotapes hat Paik immer auf Fernsehmaterial zurückgegriffen.[20] Dies unterscheidet ihn von der gesamten Body und Performance-Kunst der frühen 1970er Jahre, die fast nur mit eigenen Bildern arbeitet.

Appropriation, Montage: politisch-analytische Dekonstruktion

Für den Kontext der bildenden Kunst im engeren Sinne hat unter den angeführten »postutopischen Strategien« die der analytischen Dekonstruktion gewiss die größte Bedeutung. Eine typische Vertreterin der dekonstruktiven Medienanalyse ist Dara Birnbaum, die von 1977 bis 1980 in einer Serie von Videos die Machart des Fernsehens einer sehr präzisen Untersuchung unterzieht. Die psychologische und kulturelle Bedeutung von Bild- und Schnitttechniken wird in einer konsequenten De- und erneuten Remontage von TV-Material deutlich. Das bekannteste dieser Videos ist »Technology / Transformation: Wonder Woman« (1978). Es besteht aus einer Neumontage von Schlüsselelementen der amerikanischen TV-Serie »Wonder Woman«. Die von einem Special-Effect-Lichtblitz begleitete Verwandlung einer Durchschnittsfrau vom Typ Sekretärin in das weibliche Pendant von Superman wird durch ständige Wiederholung zum Mittel- und Ausgangspunkt einer neuen narrativen Struktur. Birnbaum berichtet, dass es bei einer öffentlichen Präsentation des Videos im Schaufenster des New Yorker »H Hair Salon« und bei Sendungen des Videos im Fernsehen zu einer Irritation der Betrachter kam, die das Video mit der TV-Serie verwechselten und vergeblich auf die eigentliche Geschichte warteten.[21] Die entscheidenden Identifikationsmomente, die jeder Zuschauerin die mögliche Flucht aus dem Alltag durch die Verwandlung zur »Wonder Woman« suggerieren, werden in ihrerÜberdosis zu ebenso leeren wie faszinierenden Ritualen.

In ihren Videos und Installationen der 1980er Jahre verwendet Birnbaum vor allem selbst aufgenommene Bilder. Für eine Installation im öffentlichen Raum knüpft sie aber an ihre Arbeit mit dem Fernsehmedium an. Die im RIO Shoppingcenter von Atlanta im Rahmen eines Wettbewerbs realisierte »Rio Videowall« (1989) ist weltweit die erste dauerhafte Videoinstallation im öffentlichen Raum. Birnbaum verbindet auf 25 großen Monitoren Bilder der Landschaft vor der Errichtung des Shoppingcenters mit Live-Fernsehbildern des von Ted Turner in Atlanta begründeten Senders CNN. Hinzu kommt eine Videokamera, die Silhouetten von vorbeigehenden Passanten mit den TV- und Naturbildern überlagert. Die ständig neuen Bilder des 24-Stunden-Nachrichtensenders, die Erinnerung an die vergangene Landschaft und die Umrisse der Passanten verweisen erneut auf den Gegensatz von privatem/öffentlichem Medium, wobei der Ansatz der 1970er Jahre um eine historische und ortsspezifische Dimension erweitert wird. Auch in Deutschland haben Ende der 1970er Jahre Videokünstler die Massenmedien einer kritischen Analyse unterzogen. Klaus vom Bruch und Marcel Odenbach beginnen beide 1977 mit Videos zum damals alle Medien beherrschenden Thema des deutschen Terrorismus, der das definitive Ende der 1968er-Utopien markiert. Klaus vom Bruch nimmt in »Das Schleyerband« (1977–1978) eine selektive Revision der Fernsehberichte zur Entführung des Industriellen Hanns Martin Schleyer vor. Odenbach stellt in »Sich selbst bei Laune halten oder die Spielverderber« (1977) eigene Szenen mit kleinen Geduldsspielen den Fotos der Schlüsselereignisse um die Fahndung und den Tod der Terroristen gegenüber: »Die Tätigkeit des Geduldsspielens als ein Symbol für den Zustand, Stellung, Haltung, etc. eines Großteils unserer Gesellschaft. Die andere Seite, das zweite Element, dem das Stichwort Spielverderber zukommt […] sind die verallgemeinert bezeichneten Terroristen […] ein Bezug besteht darin, dass sich beide Gruppen gegenseitig eine sinnlose, unverantwortliche Haltung, Beschäftigung – Zeitgestaltung – vorwerfen.«[22] Das endgültige Ende der 1968er-Utopien wird mit einem faktischen, fast resignativen Blick konstatiert.

Die in diesen beiden Videos verwendeteGegenüberstellung von Zitaten aus den Medien und eigenen Aufnahmen, zum Teil mit der Person des Künstlers im Bild, bleibt für die nächsten Jahre in der Arbeit beider Künstler stilprägend. Die spezifisch deutsche Problematik der Vergangenheitsbewältigung verbindet sich bei beiden Künstlern mit biografischen Elementen zu einer Medienanalyse, die nicht nur wie bei Birnbaum den Status Quo der Mediensituation zum Thema hat, sondern die umfassend über den historischen Zusammenhang von Medienmacht und Geschichtsbild nachdenkt. In »Das Duracellband« (1980) stellt Klaus vom Bruch durch eine klar gegliederte Montage in harten Schnitten die Zusammenhänge zwischen Technologiefaszination (verkörpert durch einen Werbespot für Duracell-Batterien) und ihren politisch fatalen Konsequenzen her (Bilder der Atombombenexplosion und ihrer Opfer in Nagasaki).

Marcel Odenbachs Videos zielen auf die Verbindung von persönlicher und gesellschaftlicher Erfahrung. Die Fernsehzitate und eigene Aufnahmen werden nicht in harten Schnitten gegenübergestellt, sondern fast zur Unkenntlichkeit miteinander verschmolzen. Der Ton bildet dabei den Gegenpol zum Bild und fügt diesem eine neue Bedeutung hinzu. In »Die Distanz zwischen mir und meinen Verlusten« (1983) wird Goethes Gedicht »Der Erlkönig« in der Vertonung von Franz Schubert zur Grundlage einer emotional dichten Montage, die einen Rückblick in die eigene Vergangenheit mit einer historischen Dimension verknüpft. Die im Titel genannten Verluste an Rückbindungen gesellschaftlicher, familiärer oder religiöser Art sind ebenso Bedrohung wie Erlösung. In Odenbachs Installationen führen einzelne, symbolische Objekte zu einer Situierung des Monitors im Raum. Das ortlose elektronische Bild wird damit in einen direkten Bezug zum Betrachter gestellt. Es reichen je ein paar Schuhe auf dem Boden vor den TV-Bildschirmen von »Das Schweigen deutscher Räume erschreckt mich« (1982), um eine Vielfalt kultureller Assoziationen und möglicher Verhaltensweisen anzudeuten. In seiner Arbeit zur deutschen Wiedervereinigung »Wenn die Wand an den Tisch rückt« (1990) nehmen die Monitore selbst den Platz von Versatzstücken der deutschen Geschichte ein: ein zu zwei Bildern verdoppelter DDR-Soldat, der immer noch auf Geheiß seines bereits untergegangenen Staats die Ewige Flamme in derGedenkstätte für die Opfer des Faschismus in der Neuen Wache am Berliner Schlossplatz bewacht.

Das Verfahren der analytischen De-Konstruktion ist seit den 1980er Jahren zu einer gängigen Technik geworden.[23] Die Arbeit mit ›vorgefundenen Bildern‹ – im Kontext des experimentellen Films gibt es dafür den Begriff des Found Footage[24] – findet sich unter anderem in den Arbeiten von Gorilla Tapes (Gavin Hodge/Tim Morrison/Jon Dovey, »Zygosis«, 1988), Johan Grimonprez (»Dial H.I.S.T.O.R.Y«, 1997), Philipp Lachenmann (»Surrogate I (Dubai)«, 2000), Walid Ra'ad/The Atlas Group (»I Only Wish That I Could Weep«, 2001) und vielen anderen. Diese seit den 1980er, vor allem aber in den 1990er Jahren entstandenen Arbeiten zeichnen sich jedoch auch durch einen stark ›synthetischen‹ Aspekt aus: Vorgefundene Fragmente werden in einen neuen fiktionalen Zusammenhang und neue narrative Sinngefüge gestellt und oft auch ›gegen den Strich‹ gelesen. Explizit mit der Dekonstruktion von Corporate Identity und Unternehmens-Logo-Kultur der 1990er Jahre setzen sich Daniel Pflumm (»antilogovideo«, 1997), Sebastian Lütgert (»rolux«, 2000) und Daniel García Andújar (»Technologies to the People«, seit 1995) auseinander.

Gegenöffentlichkeit: Video- und Medienaktivismus der 1970er und 1980er Jahre

Die Strategie der Medienanalyse spielt zwar bis heute im Kunstkontext eine wichtige Rolle, sie bleibt jedoch ohne Rückwirkung auf die tatsächliche Medienentwicklung. Die in den 1960er Jahren wurzelnde Idee der Gegenöffentlichkeit wird eher in Randbereichen oder außerhalb des Kunstkontexts fortgesetzt. Nach der Einführung von Kabelfernsehnetzen (Cable Access Television, CATV) und des tragbaren Portapaks von SONY entstanden in den USA seit Beginn der 1970er Jahre viele Videogruppen, die ihre Aktivitäten auf die staatlich sanktionierten Public-Access-Kanäle des Kabelfernsehens ausrichteten. Das Kabelfernsehen war in dieser Zeit der demokratische Hoffnungsträger per se – und hatte somit eine ähnliche Rolle inne, wie über zwanzig Jahre später das Internet. Die vomVideokollektiv Raindance Corporation herausgegebene Zeitschrift »Radical Software« (1970–1974) wurde zum Forum der CATV-Videobewegung. »Raindance glaubte, dass das Fernsehen durch den Einsatz von Video – auf der Straße, im Kabelfernsehen und an Ausstellungsorten – demokratisiert werden könnte und dass diese Befreiung von Informationen zu einer politischen Demokratisierung führen würde.«[25] Die Zeitschrift wurde herausgegeben von Beryl Korot, Phyllis Gershuny (heute Phyllis Segura), Ira Schneider und Michael Shamberg, dem Autor der wichtigen Raindance Publikation »Guerilla Television« (1971). »Radical Software« vertrat die Meinung, dass man zur Demokratisierung der zentralisierten Sendestrukturen des kommerziellen Fernsehens das Konzept des Feedbacks (also des Rückkanals) einführen müsse. Kunst und Aktivismus seien aufgrund der ihnen beiden gemeinsamen Praxis des Feedbacks – und damit war sowohl echte Zweiwege-Kommunikation gemeint als auch die absichtliche Störung von Kommunikation durch Feedback-Geräusche – strukturell und konzeptuell eng miteinander verbunden.[26] Seit den 1970er Jahren haben Videogruppen wie Top Value Television (TVTV) in dieser Hinsicht in den USA eine politisch engagierte Arbeit geleistet. Das Videokollektiv Paper Tiger TV (Motto: »Smashing the Myths of the Information Industry«) produziert seit 1981 für die offenen Kabelkanäle in New York und San Francisco jede Woche ein engagiertes und humorvolles Magazin. Ihre Gegen-Berichterstattung zum Golf Krieg fand 1991 auch in Europa Beachtung. Deep Dish Television (DDTV), »das erste nationale basisdemokratische Satellitennetzwerk«, verbindet seit Mitte der 1980er Jahre unabhängige Produzenten, Programmmacher, Aktivisten und Zuschauer in den ganzen USA.[27] Paper Tiger TV und Deep Dish Television können daher im Rückblick als Vorläufer von Indymedia bezeichnet werden, einem Zusammenschluss unabhängiger JournalistInnen und AktivistInnen, der seit Ende der 1990er Jahre im Internet über die WTO-Proteste und andere globalisierungskritische Aktivitäten informiert.[28]

In den frühen 1970er Jahren entstanden auch in Deutschland Gruppen und Kollektive, die dem Motto folgten: »Macht euer Fernsehen selber« oder »Wo Fernsehen aufhört, fängt Video an«.Zu den Ersten gehörte seit 1970 die von Herbert Schuhmacher geleitete Gruppe Telewissen aus Darmstadt, die bereits 1972 zur documenta 5 kommunikative Aktionen mit Besuchern durchführte. Vor dem Ausstellungsgebäude platzierte die Gruppe einen Transporter mit Videomonitor und -kamera, um durch direktes Feedback mit den Passanten kommunikative Situationen und »Mikrofernsehen«[29] zu produzieren. In Berlin arbeiteten seit 1969 Michael Geißler und die Videogruppe VAM (Video Audio Medien) und seit 1977 die MedienOperative Berlin e.V. an der Herstellung von Gegenöffentlichkeit. Allen Projekten ist gemeinsam, dass sie zum Teil gegen, zum Teil mit dem Fernsehen eine Öffentlichkeit aus der Sicht von Minderheiten und Betroffenen ermöglichen wollen. Bereits 1977 können sie damit so viel Gehör finden, dass das Fernsehen im Rahmen von »Kultur aktuell« eine eigene Sendung mit Portraits dieser Gruppen produziert und die documenta ihre Kunstsparten um politische und dokumentarische Medienarbeit erweitert. Utopisches Ziel bleibt dabei jedoch die Demokratisierung des Fernsehens durch neue Sende- und Produktionsformen. Aus einem eher künstlerischen Kontext heraus initiieren Klaus vom Bruch, Marcel Odenbach und Ulrike Rosenbach ebenfalls 1977 in einem Akt antiautoritärer Fernsehpiraterie das »Alternativ Television ATV«. Aus ihrem Atelier in Köln, das zum Studio und (illegalen) Sender umfunktioniert wird, senden sie ein selbstproduziertes, alternatives Fernsehprogramm, das in einem Umkreis von ein paar Hundert Metern zu empfangen ist. Im selben Jahr realisiert Friederike Pezold ihre Aktion »Radio Freies Utopia«.

In den 1980er Jahren entwickeln sich ›echte‹ Piratenradios und -fernsehsender zu einer genuinen Subkultur. In Amsterdam hat die aus dem Umkreis der Hausbesetzer stammende Gruppe Rabotnik TV ab Mitte der 1980er zunächst illegal mit einem kleinen Piratensender nachts nach Programmende ihr Signal in die offiziellen TV-Kanäle eingespeist und erhielt dann legale Sendeplätze im Kabel. Der Erfolg ihrer spontanen, der Musik von Rap, Scratch und Sampling verwandten Bildästhetik lässt bis zu 50.000 Zuschauer wöchentlich einschalten.[30] Ebenfalls Mitte der 1980er Jahre sendet im Raum Freiburg das illegale Radio Dreyeckland regelmäßig jeweils 10 Minuten langInformationen zu den politischen Protestbewegungen aus der Sicht der Beteiligten und Betroffenen.[31] In Leipzig waren Ingo Günther und andere[32] im Frühjahr 1990 an der Gründung des Piraten-Fernsehsenders Kanal X beteiligt, der im quasi rechtsfreien Raum der DDR vor der Wiedervereinigung echtes Bürgerfernsehen produzierte. Mit diesen Fortsetzungen der subversiven Strategien, die Burroughs und die 68er- Bewegung entwarfen, wird zwar der Anspruch einer breiten Wirksamkeit zum Teil Wirklichkeit, aber die Macht der Massenmedien bleibt unangefochten.

Medienaktivismus

Ein Modell zur taktischen Umnutzung dieser Macht kann der Fall von Paul Garrin liefern: Per Zufall geriet er 1989 am Tompkins Square in New York in eine Straßenschlacht, bei der die Polizei brutal gegen Obdachlose vorging, um sie aus einem Park zu vertreiben. Er flüchtete sich auf ein Auto und machte Aufnahmen mit seiner Videokamera. Von der Polizei entdeckt, wurde er ebenfalls geprügelt, konnte aber das Videoband retten und es an mehrere Fernsehsender weitergeben. Das daraufhin in den ganzen USA diskutierte Thema brachte den Begriff ›Videokünstler‹ erstmals in die Nachrichtensendungen: der Künstler als exemplarischer Bürger in Form des Videoamateurs (Garrin sprach von der »camcorder revolution«). Garrin verdichtete die Ereignisse in dem Videoclip »Man with a Videocamera (Fuck Vertov)« (1989).[33] Zusammen mit der später aus diesem Video entwickelten Installation »Yuppie Ghetto with Watchdog« (1989–1990) erlangte Garrin internationale Anerkennung. Auch Brian Springers Video »Spin« (1995) kann als genuin subversiv bezeichnet werden: Im Zuge der US-Präsidentschaftswahl 1992 benutzte Springer ein einfaches selbstgebasteltes Satelliten-Equipment, um Satelliten-Feeds (unbearbeitetes Rohmaterial für Fernsehsender) abzufangen und aufzunehmen. Springers Dokumentation, die dieses inoffizielle Satellitenmaterial öffentlich macht, zeigt, wie Politiker und Journalisten sich hinter den Kulissen bewegen und legt die völlige Verquickung von Macht und Medien in der spektakulären TV-Demokratie der USA bloß.[34]

In den 1990er Jahren bekamen die Begriffe des Interventionismus' und Aktivismus' eine für den Kunstbetrieb spezifische Bedeutung. Die AIDS-Krise gab diesen Praxisformen zuerst in New York einebesondere Relevanz und verknüpfte politische und kulturelle Strategien untrennbar miteinander. Die Plakataktionen und Videodokumentationen verschiedener schwul-lesbischer Gruppen wie ACT UP (»Voices from the Front – Testing the Limits«, 1990), Gran Fury und General Idea[35] »zielten auf das homophobe Unbewusste der Staatsräson und ihrer VertreterInnen«.[36]

Video als Medium der Emanzipation: Vom Feminismus zum Cyberfeminismus

»Als das Thema ›Frau‹ in der Kunst Ende der 1960er Jahre aktuell wurde, sprachen die Künstlerinnen vom gesellschaftlichen Rand, als Minderheit, als Einzelstimme, die vom männlich dominierten Kunstbetrieb selbstverständlich ignoriert wurde. Mit heute bisweilen dramatisch erscheinenden Aktionen und Performances, Pamphleten und Bildern traten Künstlerinnen an die Öffentlichkeit – und wurden von dieser vor allem als Frauen wahrgenommen.«[37] Valie Export schnallte sich 1968 das »Tapp- und Tastkino« vor ihre Brust, um ›begreifbar‹ zu machen, wie der weibliche Körper mit den voyeuristischen Blicken der Männer abgetastet wird. Anfang der 1970er Jahre beginnt eine Reihe von Künstlerinnen, mit dem Medium Video zu arbeiten. Video gilt in diesem Kontext als ideales Medium der Emanzipation, denn es ist neu und noch nicht durch gesellschaftliche und institutionelle Regeln vorbelastet. Auch ermöglicht es Künstlerinnen aufgrund seiner technischen Struktur ein unabhängigeres Arbeiten als zuvor das Medium Film.[38] Ulrike Rosenbach beginnt 1972 als erste Künstlerin in Deutschland, sich auf das Medium einzulassen, sich selbst und den Körper modellhaft zu inszenieren und sich mit feministischen Videobändern und Performances einen Namen zu machen. »Glauben Sie nicht, dass ich eine Amazone bin« (1976) wurde zu einem der ersten Klassiker der deutschen Videokunstgeschichte. In dieser Videoperformance zielt Rosenbach mit Pfeil und Bogen auf ein mittelalterliches Madonnenbildnis, das für die Künstlerin einen bis in die Gegenwart gültigen Inbegriff des Idealbildes der Frau repräsentiert: »stets jung und faltenlos, unschuldig und schön zu sein, mit zur Erde geschlagenen Augen.«[39] Durch die Videoüberblendung des von Pfeilen getroffenenMadonnenbildnisses mit Rosenbachs eigenem Gesicht wird jedoch klar, dass die Pfeile der Amazone auch Rosenbach selbst treffen. Friederike Pezolds reduziert in ihren Arbeiten, unter anderem in ihrer Videoskulptur »Madame Cucumatz« (1970–1975), dem Drehbuch zu »Scham-Werk« (1973–1976) und dem Performance-Konzept »Die neue leibhaftige Zeichensprache« (1975) den weiblichen Körper auf reduzierte, fast minimalistische Symbole. Martha Roslers Video »The Semiotics of the Kitchen« (1975) ist eine feministische Reflexion über Ernährung und Nahrungszubereitung sowie den häuslichen Kontext von Frauenarbeit, den die Künstlerin in eine studioähnliche Küche im Stile der beliebten Kochsendungen überträgt: Eine ernst blickende Frau, die Antithese der perfekten TV-Hausfrau, präsentiert in frontaler Position ein alphabetisches Lexikon an Küchenutensilien. Mit dem Hang zum Banalen korrigiert Rosler gleichzeitig die allzu puritanischen und blutleeren Tendenzen der in den 1970er Jahren vorherrschenden Conceptual Art. Damit war sie Vorläuferin von Medienaktivistinnen wie etwa der Gruppe der Guerilla Girls. Diese demonstrierten seit Mitte der 1980er Jahre mit großformatigen Plakaten (»Müssen Frauen nackt sein, um ins Metropolitan Museum zu gelangen?«) vor US-amerikanischen Museen, um auf den skandalösen Umstand aufmerksam zu machen, dass in diesen Institutionen immer noch kaum Kunst von Frauen gezeigt wurde.

Zu Beginn der 1990er Jahre war in Diskussionen oft die Rede von Veränderungen und Rekonfigurationen des Individuums unter den Bedingungen des neuen digitalen Raums des Internets. So war man sich sicher, dass in den virtuellen Welten Geschlechterrollen unwichtig werden, da man sie nach Belieben wechseln kann. Vor allem in den USA vertraten einige Theoretiker die Ansicht, dass der physische Körper im Netz an Bedeutung verlieren würde. Der Cyberspace stelle eine Bühne für das von Geschlecht, Rasse und Klasse befreite Individuum dar, das im virtuellen Raum die vollkommenen Bedingungen für seine absolute Selbstverwirklichung vorfände. Für Frauen und ethnische Minderheiten sollte das endlich ein Ende der Diskriminierungen und Benachteiligungen bedeuten. Diese Sicht steht und fällt jedoch mit ihrer Prämisse, dass die Körperkonfigurationen im Internet diejenigendes realen Raums aufheben würden.

Bereits 1984 hatte die Kulturwissenschaftlerin Donna Haraway ihr »Manifesto for Cyborgs« verfasst, in dem sie unter anderem behauptet, dass die Gesellschaft sich mit der Entwicklung von Cyborgs (»cybernetic organisms«) auf dem Weg in eine Post-Gender- Welt befinden würde.[40] Haraways Manifest hatte zunächst innerhalb akademischer Kreise große Wirkung. Doch erst mit der Deklaration einer cyberfeministischen Bewegung durch die britische Kulturwissenschaftlerin Sadie Plant und die australische Künstlerinnengruppe VNS Matrix 1994 in Australien[41] »gewann die Vorstellung von Cyborgs politisches Gewicht und verlor gleichzeitig an theoretischer Schärfe. In der Politisierung des Cyberspace wurde dieser mit einem Mal als ein besonderer Raum für Frauen entdeckt«.[42] Seit 1997 organisiert das Old Boys Network (OBN) verschiedene Projekte im Kontext des Cyberfeminismus, unter anderem die »First Cyberfeminist International« (Hybrid WorkSpace, Kassel 1997), die »next cyberfeminist international« (Rotterdam 1999) und die »very cyberfeminist international« (Hamburg 2001).[43]

Postkolonialer Diskurs, Transkulturalität, translokale Identitäten

»Der postkoloniale Diskurs setzt in jenen Augenblicken ein«, so schreibt Christian Kravagna, »als die politische, theoretische oder künstlerische Beschreibung des Verhältnisses zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen der dominanten Kultur des Westens und den dominierten Kulturen der ehemaligen Kolonien nicht mehr ausschließlich der Seite der Macht vorbehalten blieb. Der Diskurs findet statt, seit sich die Unterworfenen Zugang zu den Mitteln der Repräsentation verschafft haben und als Subjekte angesehen werden, die der Perspektive der Herrschaft andere Perspektiven entgegenhalten können«.[44] Nachdem 1992 die documenta 9 erstmals zwei afrikanische Künstler ausgestellt hatte, bekam sie zehn Jahre später mit Okwui Enwezor einen aus Afrika stammenden Leiter. Überhaupt ist in den letzten zehn Jahren eine (langsam) zunehmende Präsenz einer bis dato für den westlichen Blick ›unsichtbaren‹, nicht-westlichen Kunstproduktion festzustellen. Im Prozess der (ökonomischen) Globalisierung wird zudemkulturelle Identität als passiv übernommenes, einheitliches Schema abgelöst von einer produktiven, offenen Praxis, die fortwährend neue Identifikationen entstehen lässt.

In diesem Sinne verstehen Theoretiker wie Arjun Appadurai ›Transkulturalität‹ als einen Prozess, der eine neue kulturelle Vielfalt – im Gegensatz zur vielbeschworenen Einförmigkeit – hervorbringt. »Transkulturelle Durchdringungen und Überschneidungen führen der Theorie nach zu immer neuen identifikatorischen Teilmengen, die ebenso wenig aufeinander reduzierbar wie prinzipiell voneinander trennbar sind. Es entstehen partiell überlagerte Teilkulturen, die in sich von Differenzen gekennzeichnet sind.«[45] Verstärkt setzen sich in den 1990er Jahren KünstlerInnen mit diesen Prozessen auseinander, so zum Beispiel Renée Green in ihrer Videoinstallation »Partially Buried Continued« (1997) und Fiona Tan in ihrem Video »Thin Cities« (2000). In der Performance »Two Undiscovered Amerindians« (1992) stellten sich Coco Fusco und Guillermo Gómez Peña als zwei Vertreter einer bislang unentdeckten Spezies amerikanischer Eingeborener in einem Käfig zur Schau. Explizite Thematisierungen von postkolonialer Problematik finden sich auch in den Arbeiten von Shirin Neshat (»Turbulent«, 1998), Kutlug Ataman (»Never My Soul«, 2001) und Mona Hatoum (»Measures of Distance«, 1988).<BR>

Öffentlicher Raum, medialer Raum

Seit den 1970er Jahren thematisieren bildende KünstlerInnen in ihren Arbeiten den sich zunehmend durch den Einfluss von (Massen-)Medien und privatwirtschaftlichen Interessen wandelnden öffentlichen Raum. Pioniere auf diesem Gebiet sind unter anderem Dan Graham, Hans Haacke, Sanja Iveković, Jochen Gerz und Jenny Holzer.

Dass immaterielle Informationen den urbanen Raum mindestens genauso stark strukturieren wie gebaute Architektur, macht Hans Haackes Installation »Nachrichten« (1969)[46] deutlich, in der er die von der Deutschen Presseagentur (dpa) verbreiteten Nachrichten im Ausstellungsraum über einen Fernschreiber in Echtzeit zugänglich machte. In seiner Foto-Text-Arbeit »Shapolsky et al. Manhattan Real Estate Holdings, A Real Time Social System, as of May 1, 1971« analysierte und dokumentierte Haacke dieZusammenhänge von Immobilienspekulation, Besitzverhältnissen und dem Preis für Wohnraum. Legendär wurden die Zensur und Absage dieser Ausstellung durch das Guggenheim Museum in New York: Haacke hatte in seinem Projekt Scheinfirmen – auch von Trustees des Museums – und deren Verflechtungen aufgedeckt und so die Verbindungen dieser Trustees bis in höchste politische Kreise publik gemacht.

Die Auseinandersetzung mit Architektur und urbanem Raum hat sich seit den 1960er Jahren zu einem bedeutenden Thema in der bildenden Kunst entwickelt. Schlüsselwerke sind die so genannten »Cuttings« von Gordon Matta-Clark aus den 1970er Jahren – Projekte, in denen reale Gebäude durchschnitten wurden – und die »Homes for America« von Dan Graham, eine Serie von Fotografien und Tabellen, die die Architektur amerikanischer Vorstädte analysiert.[47] In den frühen 1970er Jahren wandte sich Dan Graham (1991–1997) interaktiven Videokonzepten zu. Im Vordergrund standen dabei Fragen der Privatheit, der Kontrolle und der medialen Überwachung. Das Konzept zu »Picture Window Piece« (1974) sah zum Beispiel eine Art ›Zweiwege-Überwachung‹ vor: Inner- und außerhalb eines Hauses sollte jeweils eine Kamera mit Monitor aufgestellt werden, die es den auf beiden Seiten stehenden BeobachterInnen ermöglichen sollten, nicht nur den jeweils anderen Personen, sondern auch sich selbst beim Beobachten zuschauen zu können.

Sanja Iveković zeigte 1979 mit ihrer Aktion »Triangle«,[48] wie der private Raum öffentlich überwacht wird und wie eine private, sexuell explizite Handlung vom Staat als eine Gefährdung der Öffentlichkeit interpretiert werden kann.[49] Barbara Kruger, Jenny Holzer und andere trugen politische Kritik an stereotypen Geschlechterrollen und an der damit einhergehenden Gewalt in den städtischen Außenraum. Jenny Holzer arbeitet seit 1977 mit Sprache, vor allem mit so genannten »Truisms« – irritierenden Statements, sich widersprechenden, teils klugen und auch ärgerlichen Sätzen, Maximen, Klischees, Vorurteilen. Diese »Truisms« platziert Holzer auf verschiedenen Trägermedien im öffentlichen Raum: so zum Beispiel 1982 auf der 75 Quadratmeter großen Anzeigentafel auf dem New Yorker Times Square und 1989 als Clipserie im Programm des FernsehsendersMTV. In dieselbe Zeit fallen auch Stan Douglas' »Television Spots« (1987–1988) und seine »Monodramas« (1991), die beide im normalen Fernsehprogramm während der Werbepausen ausgestrahlt werden sollten. Diese Serien bestehen aus jeweils zwölf bzw. zehn kurzen Mini-Fiktionen kommerzieller Länge, die – da in Echtzeit gedreht – im Vergleich zu ›normalem‹ Fernsehen extrem verlangsamt erscheinen und so die Sehgewohnheiten des Zuschauers irritieren.[50]

Politisch-künstlerischer Aktivismus

Als explizit in politische und soziale Verhältnisse eingreifend, verstehen sich dagegen die Arbeiten von Krzysztof Wodiczko, Jochen Gerz, Peter Fend und Ingo Günther. Der 1976 aus Polen zuerst nach Frankreich und dann in die USA emigrierte Künstler- Ingenieur Krzysztof Wodiczko ist in den 1980er Jahren durch seine großformatigen Diaund Videoprojektionen auf öffentliche Gebäude und Monumente bekannt geworden. Seine »Homeless Vehicles« (1988) gehören zu einer Reihe nomadischer Instrumente, die der Künstler für Obdachlose und MigrantInnen in Zusammenarbeit mit diesen entwickelt hat.[51] Es handelt sich hierbei um mobile und zusammenschiebbare Karren, die Platz bieten für den Transport von Habseligkeiten oder zum Deponieren aufgesammelter Pfandbüchsen; sie dienen aber auch als Regenschutz und zum Übernachten im Freien. Wodiczkos Ziel ist es dabei, Obdachlosigkeit öffentlich sichtbar zu machen: »Wenn sich die Wagen durch New York City bewegen, ist dies ein Akt des Widerstands. Er widersetzt sich dem fortschreitenden Zusammenbruch einer städtischen Gemeinschaft, die Tausende von Menschen ausschließt.«[52]

Das Projekt »2146 Steine – Mahnmal gegen Rassismus«, das Jochen Gerz mit Student- Innen der Kunsthochschule Saarbrücken zwischen 1990 und 1993 auf dem Platz vor dem Saarbrücker Schloss realisierte, zeichnet sich dadurch aus, dass es – selbst vollkommen »unmedial« und unsichtbar – nur durch die Massenmedien präsent ist. Gerz und die StudentInnen begannen 1990 im Geheimen die Pflastersteine des Saarbrückener Schlossplatzes gegen von ihnen präparierte Steine auszutauschen: Auf 2146 Steinenwurden die Namen der 2146 jüdischen Friedhöfe in Deutschland graviert. Diese Pflastersteine wurden mit der Schrift nach unten in den Platz eingelassen. Nach dem Austausch eines Teils der Steine wandte sich Gerz an das saarländische Parlament, das sich trotz heftiger Diskussionen nicht gegen ein halb fertiggestelltes Mahnmal aussprechen konnte: Das Projekt wurde mit knapper Mehrheit angenommen. 1993 schließlich erfolgte die Umbenennung des Platzes in »Platz des unsichtbaren Mahnmals«.[53]

Im Gegensatz zu dem lokalen, punktuellen Projekt bei Wodiczko und Gerz nehmen Ingo Günther und Peter Fend (»Ocean Earth Construction and Development Corporation«) eine betont globale Perspektive ein. Ingo Günther schlägt mit seiner »Refugee Republic« (seit 1995) die Gründung eines supraterritorialen und supranationalen Staates vor, der alle Flüchtlinge der Welt umfassen soll (1990 waren es nach Schätzungen des US Committee for Refugees 47 Millionen, also 1 % der Weltbevölkerung). Diese deterritoriale und immaterielle Flüchtlingsrepublik, für die auch ein Sitz in der UN angestrebt war, sollte nach Günthers Vorstellungen über das Internet Flüchtlingscamps in aller Welt verbinden.

In diesem Projekt spiegeln sich teilweise die (oft völlig) übersteigerten Hoffnungen wider, die Mitte der 1990er Jahren in das Medium Internet gesetzt wurden. Ähnlich wie zu Beginn der 1970er Jahre, als die Kabelnetze und Video als Medium der Demokratisierung der Massenmedien gesehen wurden, und wie in den 1980er Jahren, als Paul Garrin von der »Camcorder Revolution« sprach (und damit die Hoffnung auf ein Massenmedium von unten bezeichnete), betrachtete man jetzt das Internet als Mittel der Demokratisierung. Die hochfliegenden Hoffnungen und hochgesteckten Ziele dieser Zeit sind in einer Reihe virtueller, ›stadtähnlicher‹ Gemeinschaften und ›Kontextsysteme‹ verkörpert, die sich 1994 und 1995 im damals neuen World Wide Web (WWW) entwickelten: der Digitalen Stad (DDS) Amsterdam und der Internationalen Stadt (IS) Berlin. Diese frühen utopischen Ansätze wurden jedoch schnell von der kommerziellen Entwicklung eingeholt und zerbrachen daran.[54]

Mit dem Verschwinden dieser beiden Pionierprojekte ist jedoch das Thema der Erweiterung und Veränderung des öffentlichen Raums durch die neuen Medien noch längst nicht vom Tisch. Das zeigt das Projekt der Gruppe Knowbotic Research »IO_dencies« (1996–1999), das an der Schnittstelle von Netz und Realraum angesiedelt ist. »IO_ dencies« (sprich: »Tendencies«) erkundet die Möglichkeiten des Intervenierens und Handelns in komplexen urbanen Prozessen, die innerhalb von Netzwerkumgebungen stattfinden. Es untersucht das Potenzial, das digitale Technologien zur Schaffung vernetzter, partizipatorischer Modelle bieten können und fragt danach, wie der öffentliche Raum aussehen könnte, der in den elektronischen Netzen oder durch diese entsteht.

Seit 2000 machen verschiedene politische und zugleich künstlerische Kampagnen auf sich aufmerksam: Deportation-Class, »Bitte liebt Österreich!«, »[V]ote-auction« und die »Yes Men« bedienen sich Taktiken des Widerstands durch scheinbare Affirmation und Anpassung an das Image und die Corporate Identity ihrer Gegner. Während Deportation.Class die von der Lufthansa und zwölf weiteren Airlines in den 1990er Jahren gegründete »Star Alliance« als eine »Deportation Alliance« bloßstellt und so gegen das Abschiebungsgeschäft der Lufthansa agitiert, adaptierte Christoph Schlingensief in seiner Aktion »Bitte liebt Österreich!« das massenmediale Big-Brother-Format, um zu den Wiener Festwochen 2000 eine mediengerechte und per TED-Zuschauerabstimmung durchgeführte Abschiebung von Asylbewerbern direkt aus dem Container auf dem Herbert-von-Karajan-Platz zu inszenieren. Da das Ganze als eine Aktion von Haiders Freiheitlicher Partei Österreichs (FPÖ) beworben wurde, war Schlingensief die massenmediale Aufmerksamkeit sicher. Ähnliche Wellen der Empörung rief die von ubermorgen.com durchgeführte Aktion »[V]ote-auction« hervor, die amerikanischen Wählern pünktlich zurUS-amerikanischen Präsidentschaftswahl (Gore vs. G.W. Bush) 2000 die Möglichkeit anbot, ihre Stimme in einer Online-Aktion meistbietend zu versteigern. Hier wurde in erstaunlicher Klarheit die Verschränkung von Kapital und (Stimm-) Macht demonstriert. Die amerikanische Aktivistengruppe RTMark schickte in ihrer Aktion »The Yes Men« angebliche Vertreter der World Trade Organisation (WTO) zu internationalen Konferenzen, wo sie Erstaunliches zur Lage der Weltwirtschaft berichteten und das Ende der WTO verkündeten.

Netzaktivismus

RTTMark ist Teil des so genannten ›Netzaktivismus‹, der sich ab Mitte der 1990er Jahre entwickelte und unterschiedliche Strategien umfasst. Diese reichen von der Einrichtung alternativer Kommunikations- und Informationskanäle bis hin zu praktiziertem »elektronischen zivilen Ungehorsam«. Der ›ermöglichende‹ oder vernetzende Einsatz bezeichnet dabei eine auf Herstellung von Kommunikation angelegte Verwendung. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre vernetzen sich etwa verstärkt Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten sowie Globalisierungskritiker, die dem so genannten Empire Paroli bieten wollen, und organisieren ihren Protest über das Internet. Außerdem kommt es zur (zumindest konzeptuellen) Entwicklung unabhängiger Kommunikationssysteme vor allem durch MedienkünstlerInnen (»ZaMir«, »Name.Space«, »INSULAR Technologies«).

Neben dem Aufbau solch autonomer Kommunikationssysteme zählt in den letzten Jahren die Strategie des »Electronic Civil Disobedience« zu den wichtigsten Praktiken des Netzaktivismus. Dieses Konzept, das von der US-amerikanischen Künstlergruppe Critical Art Ensemble (CAE) 1996 geprägt wurde, überträgt das Prinzip des zivilen Ungehorsams inden elektronischen Datenraum. »Elektronischer ziviler Ungehorsam« geht von der These aus, dass die gewaltlose Strategie des zivilen Ungehorsams, der das reibungslose Funktionieren von Unternehmenszentralen und anderen Machtzentren durch Blockade des Zugangs temporär stört, heute nicht mehr ausreicht. Unternehmen sind zu transnationalen, global agierenden Korporationen geworden, die sich zunehmend von konkreten Orten in den nomadischen elektronischen Datenstrom des Cyberspace verlagern. Diese Korporationen können daher Provokationen des zivilen Ungehorsams ausweichen. Um unter diesen Umständen noch wirksam zu sein, solle sich, so das CAE, Widerstand nicht länger nur der Blockade physischer Orte widmen, sondern vielmehr den Fluss von Informationen selbst hemmen. Verschiedene Projekte bedienen sich dieser Strategie des ›Virtuellen Sit-Ins‹ (Electronic Disturbance Theatre, etoy).[55]

Heath Buntings Internetprojekt »BorderXing Guide« (2001) schließlich dokumentiert die illegalen Grenzübertritte innerhalb und außerhalb Europas, die Heath Bunting und seine Partnerin Kayle Brandon in den letzten Jahren im Selbstversuch vollzogen haben. »BorderXing Guide« versteht sich dabei als Anleitung zum Grenzübertritt ohne Papiere. Die Informationen, die Bunting und Brandon in Form von Fotografien, detaillierten Aufzeichnungen, Karten und lakonischen Kommentaren zu den einzelnen Routen auf der Website zur Verfügung stellen, sind jedoch nicht für jede/n InternetnutzerIn zugänglich. Um zum Beispiel als WesteuropäerIn Zugang zu dem Projekt zu erhalten, muss man physisch zu einem der weltweit verteilten ›social servers‹ reisen (Orte mit öffentlichem Internetzugang), die Buntings Vertrauen erworben haben – der Künstler war selbst in den letzten Jahren auf seinen Reisen ausschließlich auf diese Kontakte angewiesen, um Zugang zum Internet zu bekommen. Dieses Prinzip der ›umgekehrten Authentifizierung‹spielt dabei auf die alltäglichen Erfahrungen illegaler GrenzgängerInnen an.

Von der Videoüberwachung zur Dataveillance

In der internationalen Video- und Medienkunst setzen sich KünstlerInnen wiederholt mit den Themen Überwachung und Kontrolle auseinander. John Lennons und Yoko Onos »Film No. 6, Rape« (1969) ist eine der ersten Arbeiten, die mit fast unheimlicher Präzision die Reality-TV-Ästhetik der späten 1990er Jahre vorwegnimmt. Klassiker des künstlerischen Umgangs mit gesellschaftlichen Überwachungsdispositiven sind Vito Acconci (»Following Piece«, 1969), Bruce Nauman (»Live-Taped Video Corridor«, 1969–1970; »Video Surveillance Piece: Public Room, Private Room«, 1969–1970) und Dan Graham (»Time Delay Room«, 1974; »Yesterday/Today«, 1975). Das 82-minütige Video »Der Riese« (1982–1983) von Michael Klier besteht ausschließlich aus von Überwachungskameras aufgenommenen Bildern und suggeriert so die Anwesenheit einer allgegenwärtigen Kontrollinstanz. Julia Scher stattet Museumsräume mit so genannten Sicherheitssystemen aus, die die Besucher filmen und diese Aufnahmen auf Bildschirmen im gesamten Ausstellungsraum ausstrahlen (»Welcome to Security Land«, 1995). Harun Farockis Video bzw. Videoinstallation »Ich glaubte, Gefangene zu sehen« (2000) fokussiert auf Überwachungstechnologien in amerikanischen Hochsicherheitsgefängnissen.[56]

Seit Mitte der 1990er Jahre entwickeln einige KünstlerInnen kreative Détournements von Überwachungs- und Sicherheitssystemen, deren Präsenz im urbanen öffentlichen Raum heute fast allgegenwärtig geworden ist. Ziel ist es dabei, potentielle Schutz- oder Gegenmaßnahmen gegen das Dispositiv der Kontrolle zu entwickeln. Dies geschieht zum Beispiel durch den Umbau von Unterhaltungselektronik in (Selbst-)Überwachungstechnologien (Bureau of Inverse Technology, 0100101110101101.org) oder dieungewöhnliche Benutzung und Umwidmung existierender Überwachungssysteme (Surveillance Camera Players). Eines der frühesten Netzkunstprojekte zum Thema Zensur ist »The File Room« (1994) von Antoni Muntadas. In einer offen über das Internet zugänglichen und durch die Nutzer erweiterbaren Datenbank werden weltweit Fälle staatlicher, religiöser und politischer Zensur archiviert – und somit der Akt des Löschens und Zensierens sichtbar gemacht. Die Surveillance Camera Players (SCP) spielen seit Ende 1996 kurze Theaterstücke von Jarry, Poe und Beckett vor den Überwachungskameras von New York. Dialoge werden nicht gesprochen, sondern auf Texttafeln gezeigt – ähnlich wie die Zwischentitel in Stummfilmen. Das Publikum besteht aus dem Sicherheitspersonal, das die Bilder der Überwachungskameras ansieht, und aus den Passanten, die zufällig an den Aufführungsorten vorbeikommen. Das Bureau of Inverse Technology entwickelte 1997–1999 das »BIT Plane«, ein umgebautes fernsteuerbares Spionage- Modellflugzeug, das, ausgerüstet mit einer Videokamera, über ›feindliches‹ Territorium fliegen und dort Aufnahmen machen kann. Der erste Überwachungsflug fand 1997 über dem Silicon Valley, dem ›glitzernden Herzen des Informationszeitalter‹ in Kalifornien statt.

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre – spätestens seit der Veröffentlichung von Duncan Campbells ECHELON-Bericht[57] im Auftrag des Europäischen Parlaments 1998 – wird jedoch auch klar, dass es inzwischen neben der Videoüberwachung viele andere Formen der Überwachung und Kontrolle gibt. Zu nennen wären hier insbesondere Datenüberwachung unter anderem im Internet[58] (›Dataveillance‹) sowie der Einsatz biometrischer Kontrolltechnologien.[59] Mit diesen neuen »post-optischen«[60] Überwachungsmöglichkeiten setzen sich verschiedene künstlerische Projekte auseinander: In ihnen geht es um die Sichtbarmachung von Machtstrukturen in Räumen elektronischer Kommunikation. So betreibt Marko Peljhan seit 1997 seine mobile Forschungsstation »makrolab«, die als eine Art privates ECHELON-System mit Hilfe von allerlei technischem Gerät die »Topographie der Signale«[61] im gesamten elektromagnetischen Spektrum kartografiert. »makrolab« ist ausgerüstet mit Sende- undEmpfangsantennen, die verschiedene Signalbereiche erfassen und die dort zirkulierenden Datenströme aufzeichnen können. In seiner GPS-gestützten, psycho-geografischen Performance »UCOG-144 (Urban Colonization and Orientation Gear-144)« (1996) bezog sich Peljhan direkt auf das Konzept der »dérive« bei den Situationisten. Dragan Espenschied und Alvar Freude manipulierten während ihres Projektes »insert_coin« (2000–2001) den Proxy-Server der Merz-Akademie in Stuttgart und konnten so den gesamten Web- und Mailverkehr unter ihre Kontrolle bringen und mit eigenen Inhalten versehen. Die Tatsache, dass das Experiment trotz auffälliger Manipulationen vollkommen unbemerkt blieb, ließ auf ein nur gering entwickeltes Problembewusstsein auf Seiten der Nutzer schließen. Das italienische Netzkunst-Duo 0100101110101101.org, das sich der Einfachheit halber auch »zero one dot org« nennen lässt, arbeitet seit Anfang 2001 an der Realisierung eines Selbstüberwachungssystems, das unablässig Daten über das Leben der beiden Mitglieder sammelt und diese Informationen unzensiert öffentlich macht. Im Rahmen des Projektes »VOPOS« (Januar 2002) trägt das Duo GPS-Transmitter (Global Positioning System), die in regelmäßigen Abständen die Koordinaten der Künstler an deren Website senden, auf die die Öffentlichkeit jederzeit zugreifen kann. Die Daten werden auf Stadtkarten übertragen und visualisieren somit ständig den aktuellen Aufenthaltsort der Künstler.

Zusammenfassung

Dekonstruktion, Subversion und Aufbau alternativer Produktions- und Distributionskanäle sind wichtige Taktiken, derer sich MedienkünstlerInnen seit den 1960er Jahren bedienen. Als postutopisch lassen sich diese Vorgehensweisen insofern bezeichnen, als sie nicht mehr einen anderen Gebrauch der Massenmedien Fernsehen und Film imaginieren, sondern sich gegen eben diese fest etablierten Medien richten. Gleichzeitig lässt sich jedoch in vielen Ansätzen ein genuin utopisches Moment erkennen: Sowohl zu Beginn der 1970er Jahre als auch zu Beginn der 1990er Jahre werden die für ihre Zeit jeweils neuen Medien (Video, Public Access Television, Internet) aufgrund ihrer leichteren Verfügbarkeit bzw. ihrer verteilten Struktur zum Auslösereuphorischer Visionen einer – im Gegensatz zu den etablierten und zentralisierten Massenmedien – genuin demokratischen Kommunikation. Diese neuen, jeweils gesellschaftlich unvorbelasteten Medien bieten sich auch für alternative Verwendungsweisen an; nämlich für ganz persönliche, subjektive Formen des Umgangs. Darüber hinaus fragen viele der in diesem Text vorgestellten Projekte einerseits danach, inwieweit mittels Dispositiven, die durchaus nicht nur technischer Art sind, soziale, politische oder ökonomische Grenzen gezogen werden. Andererseits interessieren sich diese Projekte aber auch für die verbindenden, sozialen Elemente oder Potenziale, die in bestimmten Technologien enthalten sein können und mit denen diese Grenzen unterwandert werden können. Unter den Begriff der Technologie fallen insofern sowohl Grenzen beziehungsweise Grenzregime und Überwachungsstrukturen als auch das Subvertieren technologischer Strukturen und das Generieren von Gegen-Diskursen in der Gesellschaft.

© Medien Kunst Netz 2004