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Descartes (1596-1650), der sich wahrscheinlich nahe Ulm am Ufer der Donau befindet, hat Fieber. Nach einem Tag, den er mit tiefgründigen philosophischen Betrachtungen verbracht hat, schläft er unruhig ein drei Träume später bringen seine Visionen das Kartesianische Koordinatensystem hervor[1], das gleichzeitig einer von mehreren Ursprünge von Landkarten darstellt. In diesem damaligen Zeitraum wüten tödliche Epidemien. Während seines Aufenthalts in Paris musste er miterleben, dass in Lyon 60.000 Menschen und in Limoges 25.000 Menschen an Typhus starben.
Das Kartesianische Koordinatensystem wird bei den meisten Window-Umgebungen dazu benutzt, die Position des Maus-Users einzugeben. Guy Debord, einer der wichtigsten situationistischen Theoretiker, hat sich ungefähr 300 Jahre nach Descartes eine Erkältung zugezogen. Er hatte sich angesteckt, als er in Paris umherstreifte, um einige »psycho-geographische Führungen« im Regen zu unternehmen. Um sein zielloses Umherstreifen zu dokumentieren, zerschneidet Debord einen herkömmlichen Stadtplanvon Paris und fügt ihn wieder neu zusammen. Auf diese Weise wollte er ganz normale Wünsche und Wahrnehmungen wiedergeben, alternative Wege durch die Stadt aufzeigen und versuchen, das zu korrigieren, was aus dem ursprünglichen Vorhaben von Descartes geworden war. Im Jahr 1988 durchstreift Stefan Szczelkun mehrere Städte und geht unter dem Titel »Duets«[2] mit einigen Kollegen eine Zusammenarbeit ein. Zwei Leute, die miteinander arbeiteten, nahmen im Laufe eines Tages :wahllos 9 24 Bilder auf, die die jeweilige Stadt repräsentieren sollten. Harwood, der zu den Beteiligten gehörte, verlässt das Projekt schon früh wegen eines Magengeschwürs. Im Frühjahr 1998 beginnen die Mongrels damit, den Ausgangspunkt von Descartes zu korrigieren. Sie durchstreifen Hull[3] und sind wegen des Mangels an dokumentierten emotionalen fossilen Funden erschüttert. Sie nehmen es selbst in die Hand, diese Lücken zu füllen, indem sie mit anderen Mongrels, die sie auf ihren Wanderungen treffen, emotionale Karten der Stadt herstellen. Richard: »Wir könnten Karten der Furcht oder Karten der Lust machen.« Matsuko: »Lasst uns emotionale Zustände auf der Position von bestimmten Dingen eintragen.« Harwood: »Lasst uns einen langen, ziellosen Spaziergang machen, mit dem wir nichts bezwecken wollen und der kein bestimmtes Ziel hat.« Wir arbeiten vier Tage und kalibrieren die Informationen in eine Geografie, die die gesellschaftliche Klassenzugehörigkeit widerspiegelt.
Februar 2001 ich habe mich irgendwo in Delhi verirrt, aber ich fühle mich wohl und denke über diesen Artikel nach. Ich greife zur Karte, diesem praktischen Werkzeug für Händler und für Regierungen, mit dem sie ihre Reviere abstecken und militärische Feldzüge planen. Ich verscheuche den Abschaum der Stadt aus meinen Gedanken: Dies ist eine normale Aktivität für die meisten von uns eine Folge des :gesunden Menschenverstands 9, der jemandem dabei behilflich sein kann, sich ein ganzes Reich oder ein kleines Unternehmen aufzubauen, bzw. dabei, Leute gegen ihren Willen um die halbe Welt zu deportieren. Dieses Vergessen bietet uns die Gelegenheit zu einer temporären Blindheit, die es uns erlaubt, unseren alltäglichen Verrichtungen nachzugehen, an den Reichen-Kranken-Obdachlosen-Hoffnungslosen-Bettlern und an einem Gebäude vorbeizugehen, dessen Ruhm auf dem Leiden anderer Menschen beruht, die bei seinem Bau mitgeholfen haben.
Jetzt vergesse ich die Karte für einen Moment und erinnere mich an die Reise, genauso wie ich die Software vergesse, die diesen Text geschrieben hat. Es scheint, als existiere Software in Form einer Art unsichtbarer Schattenwelt, die aus bestimmten Abläufen besteht, so ähnlich wie der Schlüssel, den man auf Karten findet. Software bedeutet die Schaffung von Modellen, nach denen bestimmte Dinge getan werden. Allerdings vergessen wir, dass Softwareaus bestimmten kulturellen, historischen und ökonomischen Bewegungsabläufen entsteht genauso wie wir immer noch an die Objektivität von Karten glauben. Software kann ebenso wie eine Karte niemals nur ein Werkzeug sein. Obwohl man ihren Aufbau nicht sehen kann, ist sie immer von jemand konstruiert und positioniert worden.
Ich folge den einzelnen Menüpunkten der Software, genauso wie ich der Karte von Delhi gefolgt bin, indem ich mich von Ort zu Ort bewege. Ich sitze fasziniert vor der Darstellung der Menüpunkte, die ich vor mir sehe, während ich nichts von der gesellschaftlichen Geografie sehe, aus der sie entstanden sind und auf die sie einwirken. Ich ignoriere die eingebauten Fehler den impliziten Totalitarismus der vorgegebenen Funktionen und Abläufe und bin stattdessen fasziniert von den Resultaten meiner Interaktionen mit den Applikationen. Ich vergesse das Programm, um mit diesem Artikel voran zu kommen, so dass ich nach Hause gehen kann meine Frau lieben kann meinen Sohn baden kann den Hund ausführen kann.
Obwohl Karten das abbilden, was man tatsächlich sehen kann, visualisieren sie darüber hinaus auch das, was im alltäglichen Erfahrungsbereich unsichtbar ist. Wegen der Selektivität desjenigen, der die Karte herstellt, werden bestimmte Elemente dargestellt und erhalten eine verhältnismäßig große Bedeutung, während andere gar nicht abgebildet werden. Die Karte scheint eine abstrakte visuelle Komposition zu sein, mit Hilfe derer man sich zurechtfinden kann ein gottähnlicher Blick von einer vertikalen statt einer horizontalen Ebene aus, obwohl sie normalerweise in einem gleich bleibenden Maßstab über ihre ganze Oberfläche hinweg erstellt wird. Software versucht außerdem, kreative Prozesse und Abläufe anhand Hilfslinien zu visualisieren und zu strukturieren. Sie vergegenständlicht die Inhalte des Interfaces für den User. Ihr werden unsichtbare Konstrukte innerhalb ihrer Arbeitsprozesse auferlegt, wodurch sie auf eine Abfolge binärer Werte reduziert wird, die hierarchisch angeordnet sind.
Das scheinbare Vertrauen, das ich verspüre, wenn ich eine Karte betrachte, deutet auf eine grafische Illusion unseres Erlebnisraums innerhalb der Stadt hin. Sie ist so unwiderstehlich, da sie ihren bestimmten Nutzen hat als eine Methode zu erfahren, wo ich war, wo ichsein werde und wohin ich gehe - und auch wegen der Vorteile, die über diesen Nutzen hinausgehen. Es liegt außerdem auf der Hand, dass Karten nur eine von mehreren möglichen Versionen der Erdoberfläche darstellen und dass sie eine Fiktion sind, die aus einer tatsächlichen Beobachtung konstruiert sind, die auf den Ursprung bei Descartes zurückgeht. Diese Fiktion bildet sich selber auf dem äußeren Erscheinungsbild der Städte ab - das Bild der Stadt wird zu einem vermittelten Konzept, die Stadt wird von einem anderen Standpunkt aus betrachtet. Als ich aus dem Put-Put aussteige und zu Sarai[4], 29 Rajpur Road, Delhi, Indien, gehe, merke ich, dass der Fahrer die Karte gar nicht lesen konnte. Ich hätte ihm einen Konstruktionsplan einer Boing 747 zeigen können ihm wäre es egal gewesen. Diese Stadt wird erkundet, indem man nach dem Weg fragt. Die Karte besteht aus dem Austausch zwischen Menschen, die sich in der Stadt zurechtfinden und Orte wieder erkennen. »Das ist der Ort, an dem ich geheiratet habe Das ist der Ort, an dem die Unruhen ausbrachen. Das ist der Ort, an dem ich meine Jungfräulichkeit verloren habe Das ist das Delhi-Gate, an dem die Briten die Stadt zurückerobert haben.«
Die moderne Karte setzt eine bestimmte Weltanschauung, d.h. eine besondere visuelle Geografie voraus, die eine Art Vogelperspektive einnimmt. Die Karte ist eine maßstabsgetreue Abbildung und keine exakte Reproduktion. Sie ist eine symbolische Darstellung, die mit Hilfe einer festgelegten Anzahl an Symbolen, Formen, Linien und Schatten entstanden ist. Software setzt zudem voraus, dass der User eine bestimmte Weltanschauung hat, wasein ganz wichtiger Punkt bei ihrer Vermarktung ist. Software ist ein systematisches Modellieren des kreativen Prozesses und keine exakte Reproduktion dieses Prozesses. Software ist eine symbolische Darstellung des kreativen Prozesses anhand einer festgelegten Anzahl an Symbolen und interaktiven Prozessen.
Übersetzung: Uli Nitschke
© Medien Kunst Netz 2004