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ThemenCyborg BodiesPuppen-Körper
Die Medien/Spiele der Puppe [1]
– Vom Mannequin zum Cyborg. Das Interesse aktueller Künstlerinnen und Künstler am Surrealismus.
Sigrid Schade

http://www.mediaartnet.org/themen/cyborg_bodies/puppen_koerper/

Die Wiederkehr der Puppe

In den 1970er Jahren und besonders seit Anfang der 1990er Jahren lässt sich eine verstärkte Auseinandersetzung zeitgenössischer KünstlerInnen mit surrealistischen Bild-Motiven – (Schaufenster)Puppe, Körperfragment, Automat, Wachsfigur – beobachten, die zugleich eine Wiederkehr des Figürlichen oder der Körper(fragmente) in unterschiedlichen Inszenierungen und Medien künstlerischer Produktionen beinhaltete, welche außer in der Pop Art in der westlichen Kunst nach 1945 kaum eine Rolle gespielt hatten. [2] Die Puppe – als ganzer Körper und Körperfragment – ist bereits in den 1920er, 30er Jahren eine Projektionsfigur, ein »objet trouvé«, an dem surrealistische Künstler und Künstlerinnen vor allem über die Medien Fotografie und Film das Verhältnis von Repräsentation, Medialität, Wahrnehmung und Glaubwürdigkeit thematisierten. Die Technologieentwic3klung der 1990er Jahre als zentrales Moment neuer Produktions– und Gestaltungsbedingungen auch in der künstlerischen Arbeit hat zu einer intensiven Auseinandersetzung mit neuen digitalen Bildbearbeitungen geführt, die nicht nur von künstlerischer Seite zu einer Wiederaufnahmeder Diskussion um Ähnlichkeit und Simulation menschlicher Körper geführt hat. Die Verknüpfung des traditionellen Motivs der Puppe mit dem Automaten und der verlebendigten (oder auch tötenden und getöteten) Androide (und den Drohungen, die jeweils von ihr ausgehen) stellt eine der Vorgeschichten von Cyborg-Fantasien in der zeitgenössischen Medienkunst dar. [3]

Die Tradition der Puppen und der Begriff des Unheimlichen

Die Schaufenster-Puppe [4] , die für lebend gehalten, oder die Puppe, die zum Leben erweckt wird [5] , stellt eine von mehreren Figurationen der historischen Tradition des Maschinenmenschen oder des Automaten dar. [6] Ähnlich wie die Skulptur Pygmalions, eine Frau als Kunstwerk, das seinen Künstler in mythischen Erzählungen zum Schöpfer avancieren lässt [7] , ist die Puppe eine Androide, die durch Liebe/Projektion zum Leben erweckt werden kann. Sie steht somit in der Tradition der künstlichen Frau, die letztlich eine Geschichte der Frage der Täuschung ist, eine Geschichte, die sich in mythischen Erzählungen über Wahrnehmung, Malerei, Skulptur, Medialität und deren illusionistische Effekte manifestierte. [8] Für die Männer, die in einer Automate eine lebende Frau sehen und sich in diese verlieben, kann dies sowohl als Flucht vor der ›wirklichen Frau‹ als Anderer, als auch als Liebe zum Selben (Selbstliebe) gedeutet werden. Dies legt z .B. die Geschichte »Der Sandmann« von E.T.A. Hoffmann (1816/17) nahe , in der die Hauptfigur Nathanael an der Entdeckung seiner Täuschung über die Puppe Olimpia, die ein narzisstisches Liebesideal verkörpert, zugrunde geht. [9] Am Beispiel dieser Geschichte entwickelte Sigmund Freud seine Untersuchung über das »Unheimliche«, in der er das Doppelgänger- Fantasma in der Puppenfigur aufgreift. Zugleich entfaltet er an E.T.A. Hoffmanns Geschichte, in der das Gefühl des »Unheimlichen« mit der Figur der Puppe verknüpft ist, die These, dass dieses Unheimliche nicht einfach darin besteht, ein Wunsch- oder Ebenbild auf die Puppe zu projizieren oder über die ›Beseeltheit‹ der Puppe in Zweifel zu sein. [10] Die projektive Fantasie von Kindern etwa, die mit Puppen spielen, setzt nicht einmal den Glauben an die Täuschung voraus. Und auch dasIm-Zweifel-Gelassen-Sein über die Lebendigkeit einer Puppe selbst ist nicht ›automatisch‹ bedrohlich oder unheimlich.

In Freuds Interpretation wird die Puppe Olimpia zu einer Funktion der Kastrations-Angst vor dem übermächtigen Vater. Diese wird metonymisch als Angst vor dem Verlust der Augen erlebt und stellt damit eine unheimliche paranoide Wiederholung der Urszene der Kastration dar. Die Kastrationsdrohung ist zugleich immer auch eine Todesdrohung. Das Unheimliche der Doppelgängerfantasie ist verknüpft mit der Vorstellung des Schwindens des Subjekts, mit der Angst vor dem Verlust einer klaren Subjektposition und insofern werden in den ›Doppelgängern‹ technischer und medialer Natur Verlustängste thematisiert, die von den historisch jeweils neuen Möglichkeiten der technischen Simulation ausgelöst werden.

Aktuelle KünstlerInnen und ihre ›Puppen‹

Für die Auseinandersetzung mit der Figur der Puppe können eine Reihe von aktuellen Künstlernamen stehen: Katrin Freisager, Kirsten Geisler, Lynn Hershman, Inez van Lamsweerde, Victorine Müller, Yves Netzhammer, Tony Oursler, Cindy Sherman oder auch Judy Fox, Robert Gober, Mike Kelley, Kiki Smith.

Das Interesse an der Puppe ist jeweils unterschiedlich motiviert und muss in jedem einzelnen Fall auf die Traditionen und die Bezüge zu den aktuellen Debatten über Medialität und Wahrnehmung hin überprüft werden. Die Puppe wird nicht nur als Schauplatz von Fantasmen der Ganzheit und Zerstückelung gesehen, sondern auch als Figur, an der der Zusammenhang von Unbewusstem und (Automatismen der) Kreativität, das Verhältnis von Kunst und Politik und die Reflexion der surrealistischen Experimente mit Medieninszenierungen thematisiert werden können. Man kann die aktuelle Häufung des Puppenmotivs symptomatisch lesen, d.h. aus einer kulturwissenschaftlichen Analyse heraus als Hinweis auf Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Körperbildern verstehen, die zwischen Werbung, Schönheitschirurgie und Gentechnologie angesiedelt sind, und nicht zuletzt als Auseinandersetzung mit den neuen scheinbar körperlosen Kriegstechnologien und den in der westlichen Welt allenfalls über Fernsehbilder vermittelten neuen Kriegen inAfghanistan und im Irak.

Die Wiederkehr des Verdrängten

Insofern repräsentiert die Auseinandersetzung mit der Puppe möglicherweise auch eine »Wiederkehr des Verdrängten« (Hal Foster) – eine Wiederkehr der verdrängten Traumata zweier Weltkriege und der Einsichten der Psychoanalyse der 20er Jahre in die zentrale Bedeutung des Wiederholungszwangs und des Todestriebs für die Subjektkonstitution. [11] Die Thesen des US-amerikanischen Kunstwissenschaftlers Hal Foster situieren den Surrealismus und seine künstlerischen Experimente historisch nach dem ersten Weltkrieg auch als Verarbeitungen der Begegnung mit Kriegsneurotikern und deren zwanghaften Wiederholungen der Schrecken des Krieges. Diese Begegnungen surrealistischer Künstler, z. B. diejenige Bretons 1916 als Assistent an der neuropsychiatrischen Klinik Saint-Dizier mit Kriegsneurotikern, ist nicht in die offizielle Geschichte des Surrealismus eingegangen. Sie ist gewissermaßen dessen verdrängte »Urszene« und geht – so Hal Foster – mit einer Verwerfung von Freuds Konzeptualisierung des Todestriebes einher. Letztere ist ebenfalls anlässlich der Begegnung mit Kriegsneurotikern im Anschluss an seine Überlegungen zum Unheimlichen entstanden. Die Surrealisten – allen voran Breton – hatten das Konzept des Unbewussten mit einem Konzept von Freiheit gleichgesetzt [12] , in dem die Vorstellung von (unbewusstem) Zwang nicht zugelassen werden konnte. [13]

Das aktuelle Interesse am Surrealismus am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann also auch als ein Wiederholen unabgegoltener historischer Auseinandersetzungen begriffen werden, innerhalb derer aktuelle Problem – und Fragestellungen thematisiert und umformuliert werden. Drei Hauptkomplexe stehen zur Debatte: – die Auseinandersetzung mit dem Körperfragment im Kontext von Körperwahrnehmung, Geschlechterrepräsentation und Pornografiedebatte; – Reflexionen, die sich auf eine Krise der Subjektposition, das Schwinden der symbolischen Ordnung und die medialisierte Wahrnehmung beziehen; [14] – technoide Fantasien, innerhalb derer sowohl Monströses wie auch Autonomiefantasmen zur Sprache gebracht werden, die von verschiedenenaktuellen Technik- und Medienentwicklungen geprägt sind. Die beiden letzten Komplexe sind kaum voneinander zu trennen.

Geschlechterrepräsentation, Körper(fragment) und Pornografie

Figurationen von Körpern oder Körperteilen sind unhintergehbar mit traditionellen Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen in der Kunstgeschichte und den Massenmedien verknüpft. Die Figur der Puppe selbst ist spätestens seit der Romantik eher weiblich als männlich konnotiert – insbesondere in der von den Surrealisten bevorzugten sexualisierten Variante, in der die sekundären Geschlechtsmerkmale ein zentrales Element der Visualisierung waren. Fragmentarisierungen, bzw. Zerstückelungs- Szenarien wurden in der Geschichte der Kunst ebenfalls eher an ›weiblichen‹ als an ›männlichen‹ Körpern durchgespielt. Diese Zuordnung setzte sich letztlich in den Massenmedien der Pornografie fort.

Insofern wundert es nicht, dass vor allem Ausstellungen und Publikationen, die seit den 1980er Jahren im Kontext feministisch orientierter künstlerischer Praxen und Theoriebildungen entstanden sind, sich des Themas der Puppe angenommen haben [15] , wobei die Inszenierungen surrealistischer Künstler aufgegriffen, reinszeniert und reformuliert wurden. Eine feministische Debatte über die Deutung des Körperfragments in der Moderne hatte bereits in den 1980er Jahren eingesetzt. [16] Diese Debatte kann nachträglich als eine verschobene Auseinandersetzung mit der Erbschaft des Konzepts der »Entarteten Kunst« betrachtet werden (zumindest im deutschsprachigen Raum), welche – lange Zeit tabuisiert – in ihren Implikationen überhaupt erst in den 80er Jahren thematisiert werden konnte. Diese Implikationen betrafen das Körperideal des Nationalsozialismus (NS) als Spiegelfantasma einer rassischen Ganzheit und Vollkommenheit ebenso, wie die ›wörtliche‹ Lektüre von Körperfragmenten als Metapher für Dekadenz und Krankheit, welche sich in gewisser Weise in den »Culture Wars« der puritanischen USA wiederholte. [17]

Für die Surrealisten, welche im NS unter das Verdikt der Entarteten Kunst fielen, deren deutsche Protagonisten zunächst nach Paris undschließlich in die USA auswandern mussten, war die Puppe Schauplatz einer intensiven Auseinandersetzung mit Fantasien, welche eine von traditionellen Geschlechterbildern durchsetzte fragile Subjektposition mit ihren Projektionen und Abspaltungen im Kontext von Zerstückelungsängsten thematisiert. Diese wurden auf der Folie projektiver Fantasmen der Moderne inszeniert [18] und – geradezu antizipatorisch – gegen Körperästhetiken des NS gesetzt. [19]

Die hybriden Puppenkonstruktionen und fotografischen Serien von Puppen des zu den deutschen Surrealisten zählenden Hans Bellmer sind z. B. Bezugspunkt für die US-amerikanische Künstlerin Cindy Sherman, die in ihren Fotografien die Bellmerschen Puppenelemente zitiert, um jedoch zugleich die konventionellen Geschlechterkonstruktionen in ihnen aufzusprengen. In ihrer Fotoserie mit Körperversatzstücken mischt sie im Gegensatz zu Bellmer ›weibliche‹ und ›männliche‹ Körperteile, so dass sich die Zerstückelungsängste nicht vom eigenen Körper (›Geschlecht‹) abspalten und dem »Anderen« (Geschlecht) zuordnen lassen. Sie setzt darin ihre Arbeit der Dekonstruktion von Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern in den Massenmedien Film, Fotografie und der Tradition der Kunstgeschichte fort, die sie seit 1975 in ihren fotografischen Serien von den Film-Stills über die Centerfolds, den Märchenhaften Maskeraden, die History Portraits bis zu den Ekel-Fotografien und den »Sex Pictures« von 1992 verfolgte. [20] Die Anlehnung an Bellmer ist sowohl auf der Ebene der Darstellung der Konstruktion von Körperbildern zu finden: in der Exponierung des Materials, des Blicks der BetrachterInnen, als auch auf der Ebene der Reflexion über die Medialität der Fotografie.

Diese Aspekte hat auch die Zürcher Künstlerin und Fotografin Katrin Freisager herausgearbeitet. Vor allem in ihrer zehnteiligen Foto- Serie »Untitled« (2002) werden die sich konstituierenden Momente von Fotografie, Pornografie, Blick und Körperkonstruktion exakt nachvollzogen. Die ein paar Jahre vorher entstandene siebenteilige Foto-Serie »Living Dolls« könnte mit einem anderen Aspekt der Bellmerschen Puppenfotografien in Verbindung gebracht werden, nämlich mit seinem Konzept des Körper(bilde)s alsSprache und der Körperteile als Satzelementen. Bellmer hatte das Sprach-Spiel des Anagramms in die Bildsprache übersetzt und die an traditionelle Seh-Logiken und an die Vorstellung vom »Ganzen Körper« gebundene Körper-Grammatik der Anatomie – ebenso wie im Spiel mit Anagrammen – aufgelöst. Seine ›unmöglichen‹ Kombinatoriken von Körperteilen werden von ihm mit den ästhetischen Möglichkeiten des Anagramms verglichen und zugleich in einen Diskurs eingebunden, der das Unbewusste und die Nachträglichkeit als zentrale Kategorien von Wahrnehmung und Sinnstiftung benennt. [21]

Katrin Freisagers Fotoserie verbindet das Konzept des Mannequins im Sinne von Fotomodell (es handelt sich um Fotografien von lebenden Frauen und Männern, die auf einer Matratze liegend fotografiert wurden, so als wären sie unfähig jemals wieder aufzustehen) mit der Tradition des Tableau Vivant. Die Haltungen und die Beziehungen der Körper-Glieder erzeugen den Eindruck, als seien sie von einem Außenstehenden (der Fotografin) so gelegt worden, als handle es sich um Gliederpuppen oder hingelegte Marionetten, die man in jede gewünschte Position oder Drehung bringen könnte – seien diese anatomisch auch noch so absurd. Zusammen gesehen bildet die Reihe von Körpern eine Art Alphabet. In diesem Zusammenhang muss auch auf die Bedeutung des Seriellen sowohl für Hans Bellmer als auch für Cindy Sherman und Katrin Freisager hingewiesen werden. Das serielle Prinzip hatte am Potential der medialen Selbstreflexion der Fotografie einen entscheidenden Anteil und ermöglicht es, spezifische Qualitäten der Fotografie zum Ausdruck zu bringen.

Medialisierte Wahrnehmung und Reflexion der Medien

Die Puppe oder das Mannequin, die Schaufensterpuppe als Motiv der Fotografie oder des Films ist nicht nur für Hans Bellmer, sondern auch für die anderen Surrealisten ein zentrales Thema gewesen, so für André Breton, Marcel Duchamp, Paul Eluard, Max Ernst, André Masson, Man Ray, Raoul Ubac, Wols u. a. Wols fotografierte 1937 die Mannequins des Pavillons de l’Elégance auf der Pariser Weltausstellung bei Nacht und gab ihnen durch die Licht- und Schattenspiele eine dramatische, scheinbar lebendige Existenz,obgleich sie erkennbare Drahtgestelle u. ä. waren. Für die Exposition Internationale du Surréalisme 1938 inszenierten die Surrealisten eine »Straße der Puppen«, die von ihren absurd und hybrid ausgestatteten Schaufensterpuppen bevölkert war. [22] Insbesondere Man Ray interessierte sich für die fotografische Gegenüberstellung von (toten) Masken, Puppen, Torsi und (lebendigen) Menschen. [23] Die meisten der surrealistischen Puppen sind nicht nur fast ausschließlich medial überliefert (in Fotografien oder im Film), sondern auch von vorneherein ausschließlich zum Fotografieren hergestellt. Um mit Benjamin zu sprechen, sie rechnen mit ihrem Fotografiert-Werden: »Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Masse die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.« [24] Das heißt, dass sie historisch von den Surrealisten selbst nicht als eigentliches surrealistisches Objekt begriffen wurden, sondern gewissermaßen als Mittel der Produktion eines anderen surrealistischen Objekts verwendet wurde: nämlich der Fotografie, oder noch besser gesagt: einer häufig mit Text kommentierten Fotografie. [25] Deshalb muss diese künstlerische Produktion auch als eine bewusste und intensive Auseinandersetzung mit der Medialität der Fotografie und des Films gesehen werden.

Nicht zuletzt deshalb wird das Motiv auch in der aktuellen Medienkunst wieder aufgegriffen. Die Möglichkeiten des Video, der digitalen Fotografie, der digitalen Bildbearbeitung und des digitalen bewegten Bildes fordern eine Reflexion der Medialität der Darstellung erneut heraus, die wiederum in der Tradition der Täuschung oder Ent-Täuschung steht. Die Surrealisten konnten in ihren Puppenfotografien das Unheimliche der Fotografie herausarbeiten, die Mortifizierung sowie die Verlebendigung des fotografierten Objekts. [26] Dafür eignete sich die Puppe besonders, die als totes Objekt durch die mortifizierende Abbildungstechnik der analogen Fotografie – eine gleichsam tautologische Kombination – zum Leben erweckt wird, wie bei Nathanael in »Der Sandmann«: durch ein Objektiv oder eine Scheibe hindurch.

Die Reflexion über den veränderten Status und den veränderten Bezug zu einem Referenten in den mittels digitaler Bildbearbeitung hervorgebrachten Bildern [27]ist ein zentrales Motiv für aktuelle KünstlerInnen, an der Figur der Puppe die Mimesis der zeitgenössischen Simulationstechniken zu exponieren. Dabei spielen einerseits die Möglichkeiten der Projektion eine große Rolle, sei es die Projektion eines Videos oder diejenige digitaler Bilder, andererseits die unendlichen Möglichkeiten der Manipulation oder Simulation aller vorangegangenen Bild- und Tonmedien in der digitalen Bearbeitung. Nicht zuletzt werden auch die Potentiale interaktiver Konstellationen ausgelotet, die in Kombination von Bild, Ton und Aktivität die Sinne einer immersiven Täuschung unterwerfen können.

Projektionen

Tony Oursler projiziert Videos von sprechenden Menschen z. B. auf Gegenstände und Sofakissen in Koffern und Kisten, die ›unheimlich‹ verzerrt gleichwohl die Assoziation eines lebenden ›Dings‹ hervorrufen. Seine Videoinstallationen sind Demonstrationen der menschlichen Einbildungskraft, die die Apparate, die in den jeweiligen Settings deutlich sichtbar aufgestellt sind, ›übersieht‹ und die Träger der Botschaften (Kissen u. a.) in Wiederholung der kindlichen Perspektive zum Leben erweckt. Frontale Projektionen von Menschenbildern in Lebensgröße machen BetrachterInnen zu direkten Adressaten der ›Puppen‹. [28] Kirsten Geisler entwickelte mehrere interaktive Videoinstallationen, in denen Projektionen von virtuellen Frauen, die sich mit den BetrachterInnen ›unterhalten‹, eine zentrale Rolle spielen. Die Installationen »Counting Beauty 2.1« von 1999 oder »Dream of Beauty« 2.0 (1997–2000) exponieren die ›Künstlichkeit‹ der neuen Frau – sie ist digital errechnetes Ergebnis von empirischen Daten der Verhaltensforschung über Schönheitsideale, deren Konstruktion offen gelegt wird.

Machbarkeiten

Inez van Lamsweerde inszeniert in ihren lebensgroßen digitalen Fotoprints ebenfalls künstliche Menschen, die auf den ersten Blick wirklich zu sein scheinen, aber auf den zweiten Blick als konstruierte Körper mit puppenhaften Zügen wahrzunehmen sind. Die leichte Abweichung, die Verschiebung von der traditionellen analogen Fotografie zum digitalen Monster lässt sich an kleinen ›Körperzeichen‹ ablesen: toten Augen,fehlenden Brustwarzen und Körperöffnungen, leicht veränderte Proportionen. Sie sind Hinweise auf Perfektionismus und Schönheitswahn, wie sie uns in den Massenmedien begegnen, deren potentielle Machbarkeit durch die plastische und die nicht-invasive Chirurgie und nicht zuletzt die Biotechnologie täglich versprochen wird. [29]

Wahrnehmungs-Spiele

Die digitalen, bewegten Bilder von Yves Netzhammer und seine Installationen mit Großprojektionen – wie etwa das mehrteilige Ausstellungsprojekt »Die überraschende Verschiebung der Sollbruchstelle eines in optimalen Verhältnissen aufgewachsenen Astes« oder »Große Spiegel werden verloren. Informationen von Abwesenheit, damit Anwesenheit entstehen kann« – thematisieren die unendlichen Verwandlungsmöglichkeiten des menschlichen Körperbildes, das – wie seinerzeit bei Hieronymus Bosch – entnaturalisiert und hybridisiert wird. Es kann in der Bewegung der Bilder aus einer Linie, aus der Fläche oder aus einer anderen Figur (Vogel) hervorgehen und wiederum in andere Figuren eingehen. Yves Netzhammers Bildgebungen sind nicht auf Täuschung angelegt, vielmehr haben seine digitalen Figuren (nicht nur Menschen, sondern alles Gegenständliche) einen betonten Künstlichkeitscharakter. [30] Die glatten Oberflächen simulieren nicht Haut oder andere ›natürliche‹ Oberflächen; der digital erzeugte Glanz scheint vielmehr auf die Materialität von Plastik hinzuweisen. Die Oberfläche und die Bewegungsmechanik des Vogels erinnern an Blechspielzeug. Die Körper repräsentieren in ihrer Typisierung und Ähnlichkeit eine neue Menschenart ohne Geschlechterdifferenz, sie unterscheiden sich allenfalls in den Farben (nicht nur schwarz-weiß, sondern auch bunt). Sie haben keine Gesichter. Sie haben auch keine Gelenke, die Übergänge zwischen den Gliedern sind allerdings wie bei Puppen oder Gliederpuppen so abgesetzt, dass man an Verschweißungen denken könnte.

Ihre fast schon gepanzerten Körperoberflächen scheinen einerseits undurchlässig, das Körperinnere ist zumindest nicht muskulös, organisch oder als flüssig gekennzeichnet. Andererseits öffnen sich Körperteile oder spalten sich ab, werden durchbohrt von anderenGegenständen. Und werden damit zugleich Teil anderer Körper-, Material- oder Textureinheiten. Wenn man diese ›Puppen‹ statisch wahrnimmt oder beschreibt, so erinnern sie an Skulpturen von Charles Ray oder die Fotografien von Dieter Huber, die das Monströse neuer Menschen – oder Körperbilder im Zeitalter der Biotechnologie aufgreifen und potentielle Effekte des Klonens thematisieren. [31]

Die digitalen Bilder von Yves Netzhammer sind jedoch immer in Bewegung. In einer permanenten metamorphotischen Verschiebung erzeugen sie einerseits Erinnerungsbilder des Wiedererkennens und zugleich eine Perspektive hochgradiger Verunsicherung.

Die Bildausschnitte, die jeweilige Proportionen und Perspektiven verunmöglichen in vielen Fällen die Vorhersehbarkeit der Wandlungsbewegung und der zukünftigen Form. Yves Netzhammer nutzt das Medium des digitalen Bildes zur Reflexion über die menschlichen Wahrnehmungsmuster, die auf der Folie des Bekannten, Erwarteten und Wiederholbaren von Automatismen durchzogen sind und die von den entstehenden und sich aus- und nacheinander entwickelnden poetischen Bildern exponiert werden, weil sie ent-täuscht werden. [32] Insofern tragen die digitalen Figuren Netzhammers nicht unbedingt zu einer Identifikation mit oder zu einer Warnung vor monströsen kybernetischen Organismen bei, sondern zu einer Infragestellung subjektiver Wahrnehmung, die zutiefst normiert und relational ist. Die Exponierung des Zusammenhangs zwischen dem Zu-Sehen-Gegebenen und dessen Deutungen in Hinsicht auf das Verhältnis zu Dingen, die noch nicht oder nicht mehr zu sehen sind, macht die Unsicherheit und die Konventionalität des Deutens und nicht zuletzt ihre Nachträglichkeit in der Wahrnehmung sichtbar. Mit anderen Worten: die Medienspiele der Puppe greifen Vorstellungen des Unheimlichen wieder auf und erzeugen sie mit anderen Mitteln. Im Falle von Yves Netzhammer wird das Gefühl des Unheimlichen nicht über die Simulation von ›Echtheit‹ oder ›Natürlichkeit‹ von menschlichen Doppelgängern und die Unsicherheit ihrer ›Beseelung‹ erzeugt. Unsicherheit entsteht über das Bewusstmachen der automatischen Deutung von Gesehenem. Diese wird dadurch verunmöglicht, dass ein einheitlicher, die Wahrnehmung eines Subjektskonstituierender Blick- oder Augenpunkt unterlaufen wird. In die Vorstellung schleicht sich so die Angst ein, dass die in ständiger Metamorphose befindlichen, digitalen Puppenkörper möglicherweise auch anders sehen, uns anders sehen, – oder auch uns übersehen können.

Auch die schweizerische Performancegruppe cpx greifen in ihrer Performance »fontaine bleu« ganz explizit das Motiv der Puppe als Gestalt des Unheimlichen auf und verbinden sie mit aktuellen Ängsten vor dem Cyborgwerden. Während einer Nacht in einem Park standen fünf Personen reglos hinter Plexiglas. Daneben befand sich ein Computer, über den vom Publikum Daten der ausgestellten Person abgerufen werden konnten. Die puppenartigen Menschen repräsentieren hier Menschenmodelle in einer Gesellschaft der Kontrolle und Verfügbarkeit, eine Fantasie, die, wie ich aufzuzeigen versuchte, Geschichte hat. Und doch war die Situation im Park auf seltsame Weise zugleich unheimlich und absurd.

Puppen können im Zeitalter der Medienkunst in Figuren von Cyborgs wiederkehren. Die Konstruktionen von kybernetischen Organismen und die an sie geknüpften Fantasien und Fantasmen sind ohne die Geschichte der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Figur der Puppe nicht nachvollziehbar. Auch in Zeiten ihrer digitalen Konstruierbarkeit weisen sie auf die Bezüge hin, die sie mit dem Leben der Menschen verbindet. [33]

© Medien Kunst Netz 2004