Dokument: Inhalt\ Diverse Texte\ Serielle Musik
[Zurück]   [Vor]   [Hoch]   [Startseite]        Index

 

7.50 Serielle Musik


Rudolf Frisius

Serielle Musik

Serielle Musik ist Musik, die aus Reihenordnungen hervorgeht. Der deutsche Begriff s. M. wird seit 1955 in weiter umfassender Bedeutung verwendet als die sprachlich analogen französischen und englichen Begriffe musique sérielle (ein 1947 von René Leibowitz eingeführter Terminus) und serial music. Die unterschiedlichen Verwendungsweisen ergeben sich aus der Beziehung dieser Begriffe auf verschiedene Ordnungsbereiche der Musik:

a) Tonhöhe: Serielle Tonordnungen basieren auf Tonreihen - d. h. charakteristischen Anordnungen einer begrenzten Anzahl von Tonhöhen bzw. Intervallen, die als Grundreihe, d. h. als Ausgangsmaterial für die Entwicklung aus ihnen abgeleiteter struktureller Zusammenhänge behandelt werden können. (In Ausnahmefällen kann die Strukturierung auch von einem Komplex mehrerer, in der Regel miteinander verwandter Reihen ausgehen, von denen keine eindeutig als Grundreihe aller übrigen identifiziert werden kann). Die einfachsten Mittel der Ableitung einer Tonreihe aus einer anderen sind:

- einerseits (direkt auf die Tonhöhenstruktur bezogen)

Transposition (d. h. Veränderung der Tonhöhen bei gleichbleibender Intervallstruktur), Umkehrung (Veränderung der Intervallrichtungen unter Beibehaltung der Intervallgrößen), Krebs (retrograde, rückläufige Abfolge der Töne und Intervalle) und Krebsumkehrung (Krebs der Umkehrung oder Umkehrung des Krebes); weitergehende Veränderungen können sich ergeben aus der Permutation von Tönen oder Tongruppen (wobei, als Zusammenfasssung aller Permutationsmöglichkeiten bzw. als Kontrast oder Grenzfall der Tonfolge, die Eindeutigkeit der Tonabfolge durch die Überlagerung von Tönen in Frage gestellt werden kann, so daß in Grenzfällen die Reihenstruktur nicht von eindeutig angeordneten Tönen und Intervallen ausgeht, sondern von akkordisch darstellbaren Tongruppierungen mit in der Überlagerung suspendierten oder permutatorisch variablen Anordnungen von Tönen und Intervallen); die Anordnung ableiteter Reihenformen kann aus der Reihenstruktur selbst (z. B. ihrer Tonfolge oder Intervallstruktur), aus Verknüpfungsregeln (z. B. Umdeutung von einem Schlußton oder -intervall zum Anfangston oder -intervall einer neuen Reihe)oder aus Verwandtschaftsbeziehungen (z. B. Wiederkehr von Tönen in derselben oder in veränderter Abfolge in anderen Reihen) abgeleitet sein;

- andererseits (über das abstrakte Schema einer Ausgangs-Tonreihe hinausgehend) die Konkretisierung bzw. Abwandlung von durch die Reihenstruktur nicht direkt fixierten Bestimmungsgrößen. Sofern an dem in der modalen dur-moll-tonalen Skalen- und Harmonielehre bekannten Prinzip der Oktav-Äquivalenz vorausgesetzten Prinzip der Oktav-Äquivalenz von Tönen festgehalten wird, kann als erste Konkretisierung der Tonreihe die Fixierung der Oktavlagen ihrer Töne angesehen werden. In diesem Falle müßte die Reihe nicht als Abfolge von Tönen und Intervallen definiert werden, sondern (u. U. im Widerspruch zu tatsächlich konkret nachweisbaren kompositionstechnischen Verfahren und in Partitur- und Höranalyse ermittelbaren Sachverhalten) als (Grund-) Konstellation von Tonhöhen-Klassen (pitch classes), aus der sich, je nach Festlegung der Oktavlagen, zwar eng miteinander verwandte, aber im einzelnen doch unterschiedliche Intervallstrukturen ergeben können. -

Als Konkretisierung der Ton- bzw. Intervallstruktur beschreiben läßt sich auch die Festlegung anderer Toneigenschaften bzw. Parameter (siehe b ff.).

Die Konkretisierung der Oktavlagen sowie Konstellationen verschiedener ableitungsverwandter Reihen können sich aus externen Fixierungen ergeben (z. B. ausgehend von einem thematischen Einfall, wie meistens bei Schönberg, oder ausgerichtet auf aus der Tradition übernommene und zweckentsprechend verallgemeinerte Modelle der Satztechnik, beispielsweise kanonischer oder krebssymmetrischer Strukturen, oder, wie meistens bei Schönberg, Berg und Webern, der Formgestaltung), aber auch (in Verbindung hiermit oder unabhängig davon) direkt aus der Reihenstruktur abgeleitet sein (z. B. in der Umfunktionierung von Reihentönen zu Anfangstönen transponierter Reihen wie in der Structure Ia von Pierre Boulez oder von dominanten Reihenintervallen zu Transpositionsintervallen vertikaler oder horizontaler Reihenkonstellationen in den Variationen für Orchester op. 31 von Arnold Schönberg).

Eine Reihe, die primär als Intervall-Konstellation auskomponiert wird (z. B. bei Schönberg, Berg, Webern und Boulez) läßt sich als Reservoir unterschiedlicher Ausgestaltungen einer oder mehrerer Intervallstrukturen darstellen. Eine Reihe kann aber auch primär als Zusammenstellung zunächst isolierter Töne oder pitch classes konzipiert sein, wobei die Konkretisierung der zunächst abstrakten Tonhöhenstruktur tonreihenspezifischen oder auch allgemeineren Organisationsprinzipien folgen kann (letzteres insbesondere in Prozessen der Lagenausweitung oder -verengung; Beispiele struktureller Lagentransformation in der Abfolge verschiedener Reihen: J. Cage: Metamorphosis, 1938, ein von Cage selbst entsprechend kommentiertes Werk; K. Goeyvaerts: Sonate für zwei Klaviere, 2. Satz, 1950; K. Stockhausen: Kreuzspiel und Formel, 1951; Beispiele der Exposition einer einzigen Zwölftonreihe als Prozeß der Lagenausweitung: L. Nono, Il canto sospeso, Satz 6a; K. Stockhausen: "Am Himmel wandre ich..." (Indianerlieder). - Auf einzelne Tonhöhen ausgerichtete Reihen und Reihenkonstellationen können auch in tonsymbolischer Absicht konstruiert werden (z. B. in der Lyrischen Suite Bergs mit den Tönen B-A, F-H als Chiffrierungen von Namens-Initialen oder in seinem Violinkonzert mit seinen Namens-Initialen B und G als Ausgangstönen von untergeordneten Teilgruppen oder vollständigen Erscheinungsformen der Zwölftonreihe; die sechstönige Grundreihe der 1976 entstandenen, Paul Sacher gewidmeten Komposition Messagesquisse von Pierre Boulez ist die musikalische Chiffrierung des Nachnamens des Widmungsträgers).

Die von Schönberg, Berg und Webern komponierte Zwölftonmusik, auf die die Begriffe musique sérielle und serial music (nicht aber der Begriff s. M.) zunächst vorrangig bezogen wurden, geht aus vom Begriff der Zwölftonreihe, d. h. einer für ein konkretes Werk spezifisch ausgewählten Anordnung von zwölf verschiedenen (nicht miteinander oktavverwandten) Tonhöhen, die, disponiert in unterschiedlichen Oktavlagen und entsprechenden Intervallkonstellationen, in verschiedenen Spiegelformen verwendet werden können - häufig in spezifischen Intervallkonstellationen von Reihen und u. U. auch Reihenkomplexen, z. B. in Schönbergs Variationen für Orchester op. 31 mit zwei umkehrungssymmetrischen Reihen im Transpositionsabstand der für die Reihenstruktur konstitutiven kleinen Terz; beide Reihen in unsymmetrischen, sich zielgerecht verkürzenden Gruppierungen zu 5+4+3 Tönen; in zahlreichen anderen Werken Schönbergs mit symmetrischer Tongruppierung in 6+6 Töne mit umkehrungsverwandten Reihen im Transpositionsabstand der Quinte - einer Intervallbeziehung, die bereits im Bläserquinett op. 26 eine konstitutive Rolle spielt, dort aber im Verhältnis nicht zwischen verschiedenen Reihen, sondern zwischen den beiden Sechstongruppen derselben Reihe, was im 1. Satz zugleich als historische Anspielung auf die im klassischen Sonatensatz reguläre Quintverwandtschaft zwischen Haupt- und Seitensatzthema interpretiert werden kann; als Kontrastmodell zu intervallbezogenen Kopplung verschiedener Tongruppen läßt sich die tonhöhenbezogene, von demselben Ausgangston ausgehend und wieder zu ihm zurückkehrende Kopplung zweier umkehrungsverwandter Reihen definieren, die Stockhausen 1970 in Mantra eingeführt hat. (Erste in diese Richtung führende Ansätze finden sich bereits, in Überlagerungen verschiedener von demselben Ton ausgehender Reihenformen, in Stockhausens 1951 entstandener Sonatine für Violine und Klavier; Überlagerungen umkehrungssymmetrischer Tonreihen, die von demselben Ausgangston ausgehen, spielen eine wichtige, auch dramaturgisch bedeutsame Rolle in verschiedenen Teilen von Stockhausens Opernzyklus Licht). Bei Stockhausen verbinden sich Tendenzen der tonhöhenbezogenen Reihenkopplung und -veränderung (auch in Krebsbildungen für vollständige Reihen oder ihre einzelnen Tongruppen) mit einer Erweiterung des Reihendenkens bis in Bereiche diesseits und jenseits der Zwölftönigkeit im engeren Sinne, unter Verwendung von Reihen mit weniger oder mehr als 12 Tönen. (Hypo- oder hyperchromatische Tonreihen, in denen einzelne Töne fehlen oder mehrfach vorkommen, finden sich bereits im Frühstadium der Tonreihenmusik bei Schönberg im Zyklus seiner Klavierstücke op. 23 und seiner Serenade op. 24; René Leibowitz hat, bezugnehmend auf diese Stücke, den Terminus "seriell" erstmals in einem allgemeineren, über den Sonderfall der Zwölftonreihe hinaus führenden Sinne verwendet; entsprechende Vorstufen zur Zwölftonmusik finden sich in den frühen fünfziger Jahren auch im Kontext der ersten Tonreihen-Kompositionen von Igor Strawinsky).

Harmonische oder polyphone Überlagerungen und Schichtungen von Reihenstrukturen können sich ergeben entweder aus der Vertikalisierung von Tonfolgen oder aus der Überlagerung verschiedener, miteinander verwandter oder sich komplementär ergänzender Reihen. In Alban Bergs Oper Lulu ergeben sich Konstellationen verschiedener Reihen aus dem Übergang zu Nachbartönen in vertikalisierten Tongruppen, also als Ableitungen aus einer ursprünglich einheitlichen Reihenstruktur; Stockhausen konstruiert die dreischichtige Superformel seines Opernzyklus Licht aus drei selbständigen, in chromatisch komplementären Gruppierungen strukturierten Tonreihen. Mehrschichtige Reihenabläufe können auch in der Horizontalisierung zu einschichtigen Abfolgen umfunktioniert werden, wobei z. B. verschiedene Reihenformen auf Vorschlags- bzw. Hauptnoten aufgeteilt werden (Stockhausen: Klavierstück VIII Boulez: Messagesquisse) oder ihre Töne sich, ähnlich wie in latent polyphoner Einstimmigkeit bei Bach, ineinanderschieben (in verschiedenen Oktavlagen oder in derselben Oktavlage, z. B. bei Stockhausen: DONNERSTAG und SAMSTAG aus LICHT bzw. FREITAG aus LICHT).

In Zwölftonreihen, die einerseits primär als Intervallstrukturen, andererseits aber auch mit charakteristischen Veränderungen der Oktavlagen von Tönen auskomponiert werden, können einerseits Oktav- Erweiterungen und -Reduktionen und andererseits komplementäre Intervallbeziehungen eine wichtige Rolle spielen. Ansätze hierfür lassen sich, bezogen auf einzelne Intervalle, bereits in vorzwölftöniger Musik nachweisen (etwa in der dreistimmigen Sinfonia f-moll von J. S. Bach die spätere komplementäre Verwandlung des Anfangsintervalls derkleinen Terz in eine große Sexte). Erste Beispiele für die komplementäre Umkehrung größerer Tongruppen finden sich in dem zwölftönigen Walzer op. 23 Nr. 5 von Arnold Schönberg; deutliche Spuren dieses Verfahrens finden sich später in der 2. Klaviersonate von Pierre Boulez.

Die Intervallstruktur von Zwölftonreihen definiert sich in einem breiten Spektrum mit den Grenzwerten einerseits der völligen intervallischen Homogenität (Grenzfälle: zwölftönige Reihungen von Halbtönen wie, als Vorform, bereits in der Dante-Sinfonie von Liszt oder zu Beginn von Wagners Tristan und Isolde, von reinen Quarten oder Quinten), andererseits der maximalen intervallischen Heterogenität in der Allintervallreihe (deren Intervallsummen stets einen Tritonusabstand zwischen erstem und letztem Reihenton ergeben). Im Zwischenfeld zwischen beiden Extrempositionen befinden sich Reihen mit beschränktem Intervallvorrat und mit untereinander verwandten Intervallzellen. Frühe Beispiele der Verwendung einer Allintervallreihe finden sich bei Alban Berg (Klavierlied Schließe mir die Augen beide, 2. Fassung; 1. Satz der Lyrischen Suite). Seit den fünfziger Jahren erscheinen Allintervallreihen häufig in zickzackförmig sich vergrößernden Intervallen (z. B. es-d-e-cis-f etc., wie - allerdings in veränderter Disposition der Oktavlagen - deutlich hörbar zur Beginn von Stockhausens Orchesterwerk Carré entsprechende Abfolgen lassen sich auch in anderen Werken Stockhausens strukturell nachweisen, z. B. in Refrain und Mixtur sowie, in hyperchromatischer Abwandlung, in Inori); in den fünfziger Jahren spielen sie eine wichtige Rolle bei Luigi Nono.Die in der seriellen Musik der fünfziger Jahre bekanntesten Beispiele der Verwendung strukturell miteinander verwandter Allintervallreihen finden sich in Stockhausens Gruppen für drei Orchester.

Wichtige Modelle der Komposition mit begrenztem Intervall- und Intervallzellen-Vorrat finden sich bei Anton Webern, z. B. mit strukturell verwandten Sechstongruppen (Sinfonie op. 21), mit systematisch in den vier Spiegelformen variierten Dreitonzellen (Konzert op. 24) und mit auf zwei Grundintervalle reduzierten Reihenbildungen (Variationen für Orchester op. 30; noch stärker intervallisch reduziert ist die Reihe, die Webern seinem nicht mehr ausgeführten opus 32 zu Grunde legen wollte). Der prägende Einfluß dieser und anderer Spätwerke Weberns auf die serielle Musik der fünfziger Jahre wird exemplarisch deutlich in der Grundreihe der Elektronischen Studie I, 1953, von Stockhausen, die in ähnlicher Weise aus Konstellationen terz- und chromatisch verwandter Intervalle gebildet ist wie die Reihe von Weberns op. 24.

Nicht nur bei Hauer, sondern auch bei Schönberg und Berg finden sich frühe Beispiele von Reihenkonstellationen, in denen mehrere oder alle Tongruppen auch als Darstellungen von Skalen (Teil-Skalen innerhalb des chromatischen Totals) aufgefaßt werden können (z. B. chromatische und pentatonische Skala als Teilskalen der chromatischen Skala in Schönbergs Kantate Der neue Klassizismus op. 28 Nr. 3 oder die Zerlegung der chromatischen Skala in zwei tritonusverwandte diatonische Hexachorde: Berg: Lyrische Suite, 1. Satz T. 33 Violoncello) oder sich aus verschiedenen ineinander verschränkten Tongruppen ergeben (Schönberg: Bläserquintett op. 26 mit einer Reihe aus 2 Sechstongruppen mit je 5 ganztönig verwandten Tönen und einem Abschlußton aus dem jeweils anderen Ganztonsegment; Tonal oder atonal, op. 28 Nr. 1 mit einem C-Dur-Dreiklang und Konfrontation mit chromatisch ergänzenden Tönen aus zwei Ganztonsegmenten; Beispiele unterschiedlicher Skalenbildung einschließlich ihrer Vertikalisierung, auch in Clusterstrukturen, finden sich in Bergs Oper Lulu). In der seriellen Musik der fünfziger Jahre wird an diese Ansätze nur in Ausnahmefällen und in stark veränderter Form angeknüpft (etwa bei K. Stockhausen im Kontext der Klavierstücke I-III mit chromatischen Teilzellen, z. B. in Nr. I unter Aufteilung der chromatischen Skala auf die chromatisch gefüllten Quarträume c-f und fis-h; Spuren der bereits von Berg und Schönberg ausgenutzten Aufspaltung des chromatischen Totals in Diatonik und Pentatonik finden sich, in Form von Clusterbildungen, noch in den partiell seriellen Strukturen des Orchesterstückes Atmosphères von György Ligeti).

Die Vertikalisierung von Tonfolgen kann deren reihenmäßige Anordnung partiell oder vollständig unkenntlich machen für den unmittelbaren Höreindruck oder u. U. selbst für die Partituranalyse. Die Beziehung von Akkorden auf bestimmte Abfolgen von Reihentönen ist um so schwieriger, je mehr Töne an der Überlagerung beteiligt sind (schon in relativ einfachen Fällen wie im ersten Stück der Notations von Pierre Boulez; kompliziertere Probleme der reihentechnischen Analyse ergeben sich in seiner 2. Klaviersonate z. B. in auf 4 verschiedene Reihen beziehbaren Viertonakkorden). Die Identifikation vertikalisierter Tongruppen ist dann leichter, wenn sie zuvor als Tonfolgen eingeführt worden sind (z. B. die Dreitongruppen im 1. Satz von Weberns Konzert op. 24 zunächst rein vertikal (1+1+1), dann vertikal/horizontal (1+2 oder 2+1), dann rein vertikal (3),dann in vertikaler Multiplikation (Sechstonakkord als Überlagerung aus zwei Dreitonakkorden am Schluß des Satzes; in entsprechend schließt im 1. Satz der 2. Kantate op. 31 der 1. Teil mit zwei ineinander geschobenen Sechstonakkorden, und erst am Schluß des gesamten Satzes erscheint ein einheitlicher Zwölftonakkord) oder wenn Melodie- und Akkordtöne sich in genau parallelen Gruppierungen überlagern (z. B. in der Abfolge 5+4+3 zu Beginn des Themas in Schönbergs Variationen für Orchester op. 31) oder wenn die Tonkonstruktion direkt von (quasi-)

akkordischen Tongruppen ausgeht (Beispiele: Pierre Boulez: Le marteau sans maitre Structures, 2ème livre; Karlheinz Stockhausen: Momente, Plus Minus (mit variabel kombinierbaren und ausgestaltbaren Zentralklängen als Grundmaterial für kompositorische Ausarbeitungen), Stop und Adieu. Als äußerste Konsequenz aus dieser Reduktion von Tonreihen auf aufeinanderfolgende Klangzentren beschränkt Stockhausen sich in Stimmung, 1968, und Sternklang, 1971, auf einzelne Klangzentren, die überdies nicht mehr das chromatische Total ausschöpfen, sondern ausschließlich Obertonintervalle enthalten, deren serielle Strukturierung nicht an Tonvorrat und Intervallstruktur, sondern nur noch an der seriell dosierten Gruppierung der Töne ablesbar ist.

Serielle Tonreihen-Strukturierungen gibt es nicht nur auf der Basis zwölftöniger Chromatik, sondern auch in anderen Tonsystemen - im einfachsten Falle im Vierteltonsystem, wobei der Tonraum der zwölftönigen Chromatik auf den Raum einer halben Oktave, eines Tritonus komprimiert wird (P. Boulez, Le Visage Nuptial, 1.Fassung; in der späteren Umarbeitung des Werkes wurden die vierteltönigen Strukturen eliminiert). Vielfältige Möglichkeiten neuartiger Skalen und Tonsysteme wurden vor allem in den fünfziger Jahren im Bereich der elektronischen Musik entwickelt (K. Stockhausen: Elektronische Studien I, II: serielle Struktur aus Intervallproportionen bzw. aus vom Zwölftonsystem abweichender, oktavverwandte Tonbeziehungen aussparender Temperierung Gesang der Jünglinge: neue Temperierungen bzw. nichttemperierte Skalen für gesungene und elektronische Klänge Kontakte: Skalen auch für in unterschiedlichen Bandbreiten abgestimmte Geräuschbänder G. M. Koenig: Klangfiguren II, Essay: mikrointervallische Temperatur bzw. unterschiedliche Temperaturen für seriell variierte Tonräume für Sinustöne, Impulse und Rauschbänder). Karlheinz Stockhausen, der in den Tonreihen seines 1977 begonnenen Opernzyklus LICHT ursprünglich von zwölftönig, chromatischen Tonordnungen ausgegangen ist, hat mikrointervallische Intervallstrukturen aus Intervallstauchungen und aus (in zwölftöniger Temperatur nicht darstellbaren) engmaschigen Skalen-Unterteilungen bestimmter Intervalle entwickelt (mit mikrotonalen grifftechnischen Differenzierungen für Holzbläser in Kompositionen wie Ave, Xi und Ypsilon). Luigi Nono arbeitete seit den frühen achtziger Jahren mit reduzierten, aber mikrointervallisch differenzierten Ton- und Intervallkonstellationen im Orchestersatz und in (häufig live-elektronisch modulierten) kleineren vokal/instrumentalen Besetzungen.

Serielle Tonstrukturen bezogen sich zunächst ausschließlich auf eindeutig bestimmte Tonhöhen (was in der Zwölftonmusik Weberns zur extremen Konsequenz der Rücknahme der in früheren Werken, etwa op. 6 Nr. 4, erreichten kompositorischen Emanzipation des Geräusches geführt hat). Erst in den fünfziger Jahren verallgemeinerten, zunächst im Bereich der elektronischen Musik, Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig diesen Ansatz auf der Höhenlage nach abgestufte Geräusche (zunächst, in Stockhausens Studie II, in Geräusch-Simulationen mit verhallten Tongemischen; in späteren Werken, z. B. Stockhausens Gesang der Jünglinge und Koenigs Essay unter Verwendung mikrointervallischer, teilweise auch nichttemperierter Skalen sowohl für Sinustöne als auch für gefilterte Impulse und Rauschbänder; in Stockhausens Kontakte unter Verwendung von Skalen mit unterschiedlichen, jeweils intervallisch abgestuften Bandbreiten.

Als Sonderfälle der Intervallstrukturierung, die man als Kontrastmodelle zur intervallisch expandierenden Allintervallreihe beschreiben kann, erscheinen Reihen mit charakteristischen, oft auch über einen einzigen Oktavraum hinausführenden Bewegungsrichtungen - z. B. in Alban Bergs Konzertarie Der Wein (5 diatonisch in einer Mollskala aufsteigende Töne - 3 aufsteigende Dreiklangstöne - 4 in zwei aufsteigende große Terzen unterteilte, insgesamt aufsteigende Töne) oder in seinem Violinkonzert (aufsteigende Moll- und Durdreiklänge im Wechsel sowie aufsteigende Ganztonschritte, d. h. innerhalb der Reihe Beschränkung auf aufsteigende große Sekunden, kleine und große Terzen) oder im 2. Stück der Notations von Pierre Boulez (hier deutlich in der originalen Klavierfassung als in der multiplikativ erweiterten Orchesterfassung) . In solchen Fällen tritt für Konstruktion und Höreindruck die Bedeutung der Oktavverwandtschaft zurück: Entscheidend ist, daß realiter auf- und absteigende Tonfolgen zu hören sind (z. B. eine weiträumig aufwärts führende Grundreihe und eine entgegengerichtete Tonbewegung - letztere als sinnfällige Darstellung entweder der Umkehrungs- oder der Krebsform). -

Falls die Töne einer Grundreihe in der Oktavlage fixiert sind und dabei in charakteristischen Bewegungsrichtungen aufeinander folgen, kann die Reihenstruktur nicht nur in der originalen, sondern auch in gespreizten oder gestauchten Transformationen erkennbar bleiben. Intervallspreizungen (durch Verwandlung der Halbtonskala in oktavübergreifende Skalen mit größeren Intervallen) finden sich in Stockhausens Mantra, wo sie sich leicht an den charakteristischen Bewegungsrichtungen der verschiedenen Tongruppen bzw. Formelglieder erkennen lassen: 4 auf- (und ab-)steigende Töne A-H-gis-e;

2 hin- und herpendelnde Töne (f-d); 5 Töne (4 absteigende Töne mit abschließender Tonwiederholung) g-es-des-c(-c)); 3 Töne ab- (und auf-)steigend B-Ges-A. Die drei Tonreihen der Superformel von Stockhausens Zyklus LICHT unterscheiden sich nicht nur in ihrem Tonvorrat (hyperchromatisch mit Oktavierung eines Tones - chromatisch - hypochromatisch unter Auslassung des in der ersten Reihe oktavierten Tones)und in den Gruppierungen der Töne, sondern auch in den Bewegungsrichtungen: vorwiegend absteigend - aufsteigend (in zwei Anläufen) - auf- und absteigend (in zwei Anläufen). Die melodischen Konturen bleiben erkennbar auch noch in intervallisch radikal veränderten Formen der Spreizung (DIENSTAG aus LICHT, 2.Akt) und der mikrointervallischen Stauchung (Ypsilon).

Ursprünglicher Ausgangspunkt der (Ton-)Reihentechnik ist die Unterscheidung eindeutig bestimmter und (während einer vorgegebenen Dauer) unverändert beibehaltener Tonhöhen. Die Ablösung fester Tonbeziehungen durch Glissando-Strukturen durch Iannis Xenakis (rein instrumental, realisiert durch die Steichergruppe in - hier erstmals verwendeter - totaler divisi-Technik, im Orchesterstück Metastaseis, 1953-54; elektroakustisch in Diamorphoses, 1957; auch in zahlreichen späteren vokal/instrumentalen und elektroakustischen Werken)erfolgte als Absage an serielles Musikdenken - (obwohl sich in Metastaseis noch neben den - vor allem an Anfang und Ende dominierenden - Glissandostrukturen auch serielle Tonstrukturen mit festen Tonhöhen finden).In serieller Vokal- und Instrumentalmusik der fünfziger und frühen sechziger Jahren finden sich nur ausnahmsweise Glissandostrukturen (z. B. in Stockhausens Carré die durchgängigen Glissandostrukturen des 1969 entstandenen Orchesterstückes Fresco bilden einen einmaligen Ausnahmefall). Häufiger zu finden sind Glissandostrukturen in elektronischer Tonbandmandmusik und in live-elektronischen Kompositionen (z. B. bei Stockhausen in Kontakte, Mixtur, Telemusik, Hymnen - hier auch rein instrumental in einem Teil des später zum Mittelteil des Stückes hinzugefügten Orchesterparts, der als instrumentale "Brücke" zwischen der 2. und 3. Region fungiert - und Sirius). In den 90er Jahren entwickelte Stockhausen neue Ansätze struktureller, mit räumlichen Bewegungen koordinierter Glissando-Komposition - in Glissandobewegungen, die Intervalle zwischen verschiedenen Formel-Tönen überbrücken (und insofern als Weiterentwicklung entsprechender chromatischer oder mikrointervallischer Übergangsskalen interpretiert werden können).

Als Grenzfall kontinuierlicher Tonveränderung interpretieren lassen sich die im Playbackverfahren dicht geschichteten dichten Scharen gefilterter Impulse zu Beginn von Stockhausens Gesang der Jünglinge, in deren ständig unterbrochener Abfolge kontinuierlich veränderte Filter-Einstellungen nur intermittierend wirksam werden können. Stockhausen hat in diesen Strukturen Tonhöhenfixierungen erstmals nicht punktuell, von einzelnen Generator-Einstellungen ausgehend, vorgenommen, sondern mit mehrfachen manuellen Veränderungen in vorgegebenen Registerbereichen innerhalb eines vorgegebenen Zeitabschnittes - d. h. ohne exakte Detailfixierungen, innerhalb global seriell strukturierter und typisierter Registerbereiche und Bewegungsrichtungen. Ähnlich verfährt Stockhausen in vielschichtig überlagerten Passagen gesungener Töne.In den Gruppen für drei Orchester geht die ausgearbeitete Tonhöhen-Konstruktion häufig nicht von einzelnen Tönen, Intervallen und Tonreihen aus, sondern von einer (aus der Grundreihe abgeleiteten) Abfolge vorgegebener Tonumfänge, die z. B. in ihrem Umfang, in ihrer Positionierung innerhalb des Tonraum, in der Anzahl und in den vorherrschenden Bewegungsrichtungen der in ihnen enthaltenen Einzeltöne nach den Vorgaben der Grundreihe und ihrer Transpositionen strukturiert sind. Auch hier also haben die Fixierungen von Bewegungsrichtungen konstruktiven Vorrang vor der Ausnotierung konkreter Tonhöhen und Intervalle. Die globale Vorstrukturierung der Tonumfänge führt hier so weit, daß z. B. bei Tonumfängen mit extrem wenigen Tönen oder bei extrem kleinen Tonumfängen die Detailkonstruktion der Tonhöhen vom chromatischen Detail abweichen kann. (Von mikrotonalen Intervallteilungen im letzteren Falle hat Stockhausen aus aufführungspraktischen Gründen abgesehen; Beispiele seriell variierter Tonumfänge, in ihren Grenzen definierter neuartiger temperierter Skalen sowie seriell systematisierter Bewegungsrichtungen und gruppierter Abfolgen von Sinustönen, Impulsen und Rauschklängen finden sich, teilweise in enger kompositionstechnischer Affinität zu Stockhausens Gesang der Jünglinge, in G. M. Koenigs elektronischer Tonbandkomposition Essay). Dennoch kann gesagt werden, daß in der seriellen Musik die von Detailbestimmungen ausgehenden Konstruktionen häufiger sind als von globalen Bestimmungen ausgehende Techniken, die eine wesentliche Rolle spielen in ebenfalls parametrisch, aber nicht in Reihen strukturierten (nach mathematischen Modellen z. B. der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Mengenlehre entwickelten) Kompositionen von Iannis Xenakis.

b) Zeitwerte: Erste Ansätze einer seriellen Strukturierung, die über den Bereich der Tonhöhe hinaus bis in die Zeitstruktur führt, finden sich bereits in Kompositionen der zweiten Wiener Schule, vor allem im Spätwerk Anton Weberns.Neue Aspekte ergaben sich in den späten vierziger Jahren aus Versuchen Olivier Messiaens und seines Schülers Pierre Boulez, chromatische Tonstrukturen und ihre Transformationen zu verbinden mit vergleichbar komplexen Rhythmen und rhythmischen Transformationen. Erste Ansätze hierfür lassen sich in Weberns Variationen für Orchester op. 30 finden. Komplexere, allerdings auch nicht vergleichbar sinnfällig auf die Tonstruktur bezogene rhythmische Gestalten finden sich im Frühwerk von Pierre Boulez, beispielsweise im 4. Satz seiner 1948 entstandenen 2. Klaviersonate. Boulez geht, ebenso wie sein Lehrer Messiaen, bei der Verarbeitung rhythmischer Gestalten von dem in oeuvre Igor Strawinskys (insbesondere Le sacre du printemps) entdeckten Prinzip der "personnages rhythmiques", des planmäßigen Wechsels zwischen teils konstanten, teils fortwährend variierten rhythmischen Gestalten aus. Boulez konzentriert sich auf schon zuvor, in den 1945 entstandenen Notations, erkennbare Versuche der Kombination zwölftöniger Strukturen mit Messiaens Techniken der rhythmischen Gestaltbildung und -transformation.

Einen anderen Ansatz der Koordinierung von Ton- und Zeitstrukturen entwickelte Olivier Messiaen - zunächst in einzelnen Abschnitten der Komposition Canteyodyaya, 1948, dann in der Gesamtanlage des Mode de valeurs et d´intensités, 1949: Messiaen koordinierte nicht Tongruppen mit Rhythmen, sondern einzelne Tonhöhen mit einzelnen Tondauern. In der Überlagerung verschiedener Schichten (mit jeweils verschiedenen Grund-Zeitwerten, wobei tendenziell längere Dauern tieferen Tönen zugeordnet wurden) kombinierte er jeweils zwölf verschiedene Tonhöhen mit zwölf verschiedenen Tondauern, die sich jeweils in einer arithemtischen Reihe als ein- bis zwölffache Vielfache einer Grundheinheit ergaben. Dies führte dazu, daß in der Wahrnehmung der resultierenden Musik die längeren Dauern überwogen und die Unterschiede zwischen ihnen (z. B. zwischen den Dauern 11 und 12) weniger deutlich wahrnehmbar waren als zwischen den kurzen Einheiten (z. B. 1 und 2). Dauern-Reihen, in denen auch die Unterschiede zwischen längeren Einheiten deutlich wahrnehmbar sind, müssen anders strukturiert sein, z. B. als Fibonacci-Reihen, in denen sich neue Zahlen jeweils als Summe aus zwei vorausgegangenen Zahlen ergiben (z. B. 1-2-3-5-8-13-21-34-55 bei I. Xenakis zu Beginn von Metastaseis, bei K. Stockhausen fortgeführt bis zu den Werten 89 und 144 u. a. in Klavierstück IX, Mikrophonie I und II, Adieu, Telemusik in anderen Werken verwendet Stockhausen Dauernskalen mit sich vergrößernden Stufen wie z. B. 3-6-10-15 in Mixtur oder - parallel zu den Frequenproportionen der Tonhöhenstruktur entwickelte - geometrische Dauern- bzw. Temposkalen z. B. in Gruppen für drei Orchester, Inori und Licht).

Skalen mit 12 gleichstufig angeordneten Werten sind im Tonhöhenbereich durch die chromatische Skala vorgegeben, während sie im Dauernbereich oft nur indirekt, als Anpassung an die Tonordnung legitimiert sind. Gleichwohl ermöglichten sie schon in Messiaens ersten Beispielen punktueller Musik eine stärkere Individualisierung der einzelne Töne, die dann noch durch parallele Differenzierungen im Bereich der Lautstärke (siehe c) sowie einer anderen, damals ebenfalls als elementar angesehenen Eigenschaft, nämlich der Anschlagsarten (siehe d), verstärkt wurde. Die so erreichte Individualisierung der Töne, die Messiaen zunächst in freier Abfolge eingeführt hatte, hat später Pierre Boulez in seiner Structure Ia für 2 Klaviere (1951) in Reihen für verschiedene zusammenwirkende Parameter (Höhe, Dauer und Lautstärke; vgl. hierzu auch c) organisiert. Auch er ging zunächst von einer arithmetischen Dauernskala aus, ebenso wie Karlheinz Stockhausen in Kreuzspiel (1951). Das Übergewicht längerer Dauern versuchten später sowohl Boulez (in später entstandenen Stücken des ersten Buches der Structures) als auch Stockhausen (in Kontrapunkte) durch Unterteilungsrhythmen zu kompensieren. Stockhausen beschreibt sein Verfahren als Resultat einer nachträglichen Überarbeitung und erläutert: Dazu habe ich vorhandene rhythmische Werte, die länger waren, von Anfang bis Ende des Werkes in zunehmendem Maße "ausmultipliziert" (wie ich das nannte), d. h. durch rhythmische Pulsationen (und dadurch natärlich auch durch Tonhöhen - man kann ja Rhythmus nicht ohne Tonhöhen darstellen) mit melodischen Konfigurationen um Zentraltöne herum innerlich belebt (Texte 6, 323). Die ursprünglich den Tonreihen angepaßten Dauernreihen erwiesen sich insoweit als musikalisch inadäquat, so daß rhythmische Korrekturen notwendig wurden (die wiederum Konsequenzen für die Tonstruktur hatten, so daß erstmals in der seriellen Musik die traditionelle Hierarchie zwischen Ton- und Zeitordnung umgekehrt war; noch weiter in dieser Richtung ging Stockhausen später in den Kompositionen Zeitmaße, Klavierstück XI und Gruppen, bei denen der Zeitorganisation größere Bedeutung zukommt als der Tonhöhenorganisation).

Schon in den frühen fünfziger Jahren stieß Stockhausen bei der praktischen Studioarbeit mit konkreten und elektronischen Klängen auf die Parallelität von Tonhöhen- und Zeitwerten und -proportionen (wobei z. B. die Proportion 2:1 als Oktave im Mikrobereich der Frequenzen und als Verhältnis von doppelter zu einfacher Dauer im Makrobereich der Dauern erscheint). Die Parallelität zwischen Frequenz- und Dauernproportionen erprobte Stockhausen zunächst in konkreter und elektronischer Tonbandmusik (Etude, Studien I,II). In der Instrrumentalmusik definierte er Tempo-Proportionen in Analogie zu den Frequenz-Proportionen einer vorgegebenen Tonhöhen-Grundreihe - zunächst zum Zwecke unterschiedlicher Zeitgestaltung in verschiedenen, vieltönigen Formabschnitten, sogenannten "Gruppen" (in Gruppen), später entsprechend dem Wechsel von Ton zu Ton in der dem Werk zu Grunde gelegten Melodieformel (in Inori); in Licht verwendet Stockhausen dieselbe zwölfstufig-chromatische Temposkala für Unterteilungen seiner dreischichtigen Superformel.

Dauernproportionen lassen sich in serieller Musik zur Differenzierung nicht nur einzelner Töne, sondern auch komplexerer Tongruppen und Formeinheiten einsetzen (als Expansion der rhythmischen Detailproportionen in den Makrobereich), und andererseits lassen sie sich auch im Mikrobereich zur Strukturierung von Schwingungsformen und Klangfarben einsetzen. (Stockhausen verwendet die Kontraktion in den Mikrobereich in der elektronischen Komposition Kontakte, die Expansion in den Makrobereich in den Orchesterwerken Gruppen und Inori sowie im Opernzyklus Licht, wo aus der Makroprojektion einzelner Töne und Formgruppen vollständige Szenen, Akte und Opern sowie die Abfolge aller sieben Wochentags-Opern abgeleitet werden.

John Cage hat, bezugnehmend auf Beobachtungen in der Musik von Erik Satie (indirekt auch von Webern), schon in den späten vierziger Jahren festgestellt, daß in einer von Zeit und Rhythmus ausgehenden Kompositionstechnik Klang und Stille als gleichwertig behandelt werden müssen. Stockhausen, der in seinen ersten punktuellen Kompositionen noch am Primat der Tonhöhenkonstruktion festgehalten hatte, suchte nach anderen Bestimmungen dieses Verhältnisses: In der Verallgemeinerung der traditionellen Unterscheidung zwischen den Artikulationsformen Staccato und Legato (siehe d) unterschied er im Verhältnis zwischen aufeinanderfolgenden Ereignisses zwischen Dauern (z. B. von einzelnen Tönen, von ausgehaltenen oder pulsierend unterteilten Geräuschen in Kreuzspiel) und Einsatzabständen (wobei, wenn diese größer als die entsprechenden Dauern sind, Staccato-Pausen zwischen benachbarten Ereignissen entstehen - bzw. Legato-Verbindungen bei Gleichheit von Dauer und Einsatzabstand oder Überlagerungen bei längeren Dauern, woraus sich in Studie II charakteristische Möglichkeiten der Artikulation unterschiedlicher Formteile ergeben: Legato in Teil 1 - Überlagerungen in den Teilen 2 und 4 - Staccato in Teil 3 - Kombinationen in Teil 5).

c) Lautstärken: Schon in den ersten Beispielen punktueller Klaviermusik Olivier Messiaens sind nicht nur die einzelnen Tonhöhen und Tondauern individuell behandelt, sondern auch die Lautstärken. In diesem Bereich ist die Differenzierung von zwölf verschiedenen Werten noch weniger naheliegend als im Bereich der Dauern, und sie wirft überdies aufführungspraktisch vor allem in Solo- oder kleineren Ensemblebesetungen weitaus schwierigere Probleme auf. Aus diesem Grunde finden sich Reduzierungen der Anzahl dynamischer Werte und einheitliche dynamische Werte schon in den frühen fünfziger Jahren beispielsweise bei Pierre Boulez (Structure Ia) und Karlheinz Stockhausen (Zuordnung desselben dynamischen Wertes zu Tonpaaren in Kreuzspiel einheitliche Dynamik für einzelne Tongruppen in Klavierstück I und in den Gruppen für drei Orchester;gruppenweise wechselnde Dynamik in den überlagerten Formeln des Zyklus Licht, dessen dynamische Komplexität besonders im Chorstück Weltparlament, einer Szene des MITTWOCH aus LICHT, in Analogie zur Tonstruktur ausdifferenziert und im Mehrfarbdruck ausnotiert ist.

Differenzierte Möglichkeiten vielstufiger dynamischer Differenzierung wurden erstmals von Karlheinz Stockhausen in seinen beiden ersten elektronischen Tonbandkompositionen ausgenutzt (Studien I,II, 1953-54). Im Bereich instrumentaler Musik hat Stockhausen erstmals 1974/74 (im Orchesterstück Inori) 60 verschiedene dynamische Werte auskomponiert durch abgestufte Kombinationen der Orchesterinstrumente in verschiedenen Lautstärken. An zentraler Stelle des zweiten Formteiles, der den Titel "Dynamik" führt, werden alle verwendeten dynamischen Werte in ausgedehnten Decrescendo-Crescendo-Kurven des Orchesters hörbar.

d) Artikulation: Seit den ersten punktuellen Innovationen von Olivier Messiaen gibt es Versuche, die Differenzierung der einzelnen Töne durch wechselnde Artikulationsbezeichnungen deutlich zu machen. Hierbei ist die Differenzierung von 12 verschiedenen Werten noch schwieriger als bei den Lautstärken, zumal eine restlos konsequente lineare Anordnung verschiedener Artikulationswerte (die teils die Anschlagsarten, teils verschiedene Arten der Tonverbindung und dabei auch das Verhältnis zwischen Dauern und Einsatzabständen, Klang und Stille regulieren) nicht möglich ist und überdies Festlegungen in anderen Bereichen tangiert (z. B. die Lautstärke bei Akzenten und die Dauer beim Staccato). Es erwies sich als schwierig, wenn nicht unmöglich, serielle Anordnungen verschiedener Artikulationsformen aufführungspraktisch überzeugend zu realisieren. Deswegen wurden entsprechende Ansätze Messiaens nur vorübergehend von jüngeren Komponisten wie Boulez und Stockhausen aufgenommen und schon in den frühen fünfziger Jahren wieder aufgegeben.

e) Klangfarben: Die Klangfarbe ist nicht in vergleichbarer Weise strukturierbar wie Tonhöhe, Dauer (Zeitwert) und Lautstärke, da Klangfarben sich nur in seltenen Ausnahmefällen eindimensional anordnen lassen und überdies von anderen Grundbestimmungen abhängig sind (insbesondere von Tonhöhe- und Lautstärkebestimmungen und -relationen von Obertönen). Vorgefundene instrumentale Klangfarben lassen sich allenfalls näherungsweise in serielle Ordnungen einbringen. In Elektronischer Musik hingegen können sich Möglichkeiten serieller Klangfarben-Dosierung aus seriellen Tonhöhe-Lautstärke-Proportionierungen von Sinustongemischen ergeben. Schwieriger wird die elektronische Klangfarbenstrukturierung allerdings dann, wenn als elementare, nicht weiter reduzierbare und nicht aufeinander zurückführbare elektronische Klangfarben nicht nur Sinustöne, sondern auch Impulse und Rauschbänder verwendet werden. In diesem Falle lassen sich die drei verschiedenen Klangfarben zwar in ihren Gruppierungen und, bei Verwendung sensibler Filter (z. B. abstimmbarer Anzeigeverstärker) für Impulse und Rauschbänder, auch in ihren (mittleren) Tonhöhen, aber nicht in ihren Farbabstufungen seriell dosieren.

f) Integratives serielles Denken in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts: Serielle Bestimmungen und Strukturierungen eignen sich zur Bestimmungen nicht nur einzelner Details, sondern auch größerer musikalischer Zusammenhänge. In integrativer serieller Musik lassen sich aus einer vorgegebenen Reihenstruktur Gestaltungsprinzipien für Ordnungsbereiche auf verschiedenen Ebenen der formalen Gestaltung ableiten. Der einfachste Ansatzpunkt für die Projektion reihentechnischer Details in größere Formzusammenhänge ist die Umfunktionierung einzelner Reihentöne zu Anfangstönen vollständiger Reihen.

Serielle Musik, die aus der Verallgemeinerung der Tonreihenkomposition hervorgegangen ist (insbesondere aus dem Versuch, die Tonreihen mit Dauernreihen zu kombinieren), tendierte zunächst zur Intensivierung der kompositorischen Kontrolle (unter Einbeziehung von Details, die bis dahin in der musikalischen Interpretation individuell variabel geblieben waren), andererseits aber auch schon frühzeitig zur engen Koordination von detailbezogener und großformaler Gestaltung. Dabei ergaben sich als Konsequenz aus fixierten Detailstrukturen auch fixierte größere Formzusammenhänge.

Als Alternative zum von fixierten Tonordnungen ausgehenden kompositorischen Denken läßt sich musikalische Erfindung definieren, die von der Emanzipation des Geräusches ausgeht, also Alternativen zur Komposition von Hörereignissen mit eindeutig fixierten, stationären Parameterbestimmungen entwickeln muß. Die in diese Richtung zielenden Ansätze des Futurismus und von Edgard Varèse sowie der musique concrète entstanden und verblieben (von einzelnen seriellen Tonbandproduktionen, Antiphonie und Vocalises, des jungen Pierre Henry abgesehen) in völliger Unabhängigkeit vom seriellen Denken. Anders einzuordnen ist die in den späten dreißiger Jahren entwickelte

strukturelle Geräuschkunst von John Cage, die dieser selbst später als bestimmte Negation des tonstrukturellen Denkens seines Lehrers Arnold Schoenberg beschrieben hat. Cage hat hierbei schon in mehreren frühen Werken dezidierte Alternativpositionen zu den in avancierter neuer Musik (insbesondere in der zweiten Wiener Schule) zunehmend radikalen Fixierungen des tonstrukturellen Denkens bezogen. In Quartet, 1935, komponierte Cage fixierte Strukturen für ein frei wählbares perkussives Instrumentarium. In der Living room music, 1940, konkretisierte er diesen Ansatz in der Aufführungssituation des Wohnzimmers mit seinem akustischen Ambiente. Während in diesen Werken die Verbindung fixierter Rhythmik mit unbestimmter Instrumentation noch nicht über den Rahmen eines unkonventionell erweiterten Schlagzeuginstrumentariums hinausgeht, entwickelt sich im Musikdenken von Cage eine neue Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit seit Credo in US, 1942: Hier finden sich bei Cage erstmals Notationen, die nicht mehr in allen Details rhythmisch fixiert sind, sondern für einen bestimmten Zeitraum eine Aktion vorschreiben, deren rhythmische Details ebenso wie weitere Parameter vom Komponisten absichtlich unbestimmt gelassen werden: Traditionell notierte, u. U. zusätzlich mit Fermaten notierte Zeitwerte geben an, wie lange ein elektroakustisch-massenmediales Konsumgerät, ein Phonograph oder ein Radioapparat, eingeschaltet oder (bei Pausenwerten) ausgeschaltet bleiben soll. Kein weiterer Parameter wird festgelegt mit Ausnahme der am Gerät eingestellten Lautstärkewerte und Lautstärkeveränderungen. Auf dem Phonographen soll eine frei gewählte Aufnahme traditioneller oder zeitgenössischer Klassik abgespielt werden; auch über die Frequenzen oder Sendungen, die bei Verwendung eines Radioapparates eingestellt werden sollen, macht Cage keine näheren Angaben (wobei Cage für diese in dem katastrophenreichen Weltkriegsjahr 1942 entstandene Komposition vorschreibt, daß in Zeiten innen- oder außenpolitischer Krisen keine Nachrichtensendungen eingeschaltet werden sollen). Die so weitgehend unbestimmt gelassenen Klänge sollen kombiniert werden mit rhythmisch und instrumentationstechnisch fixierten eines kleinen, von unkonventionellen Schlaginstrumenten und Klangerzeugern dominierten Instrumentalensembles: Die hartnäckigen Ostinati, die Cage in seiner Partitur vorschriebt, artikulieren unorthodoxe Aufsässigkeit gegen die beliebig hinzugefügten, für die standardisierten Massenmedien typischen musikalisch-akustischen Klischees.

Quartet, Living room music und Credo in US sind im Kontext des oeuvres von John Cage frühe Beispiele der Aufbrechung eines deterministischen Denkens, das sich zunächst entwickelt hatte aus dem paradoxen Versuch, das deterministische tonstrukturelle Denken Schönbergs zu übertragen auf die Geräuschkomposition, deren unbestimmtes Material eigentlich zu ganz anderen kompositorischen Ansätzen zwingt, wenn es seinen spezifischen Besonderheiten entsprechend verarbeitet werden soll - sei es in Musik für präpariertes Klavier (in der die traditionelle eindimensionale Tonhöhenordnung komplexe, nicht mehr in Skalen integrierbare Klänge aufgebrochen wird und eine von den spezifischen Besonderheiten eines bestimmten Instrumentenfabrikats abstrahierende Klangfarbenfixierung nicht mehr möglich ist), sei es in Musik für unkonventionelle Geräuschinstrumente und Klangerzeuger (deren Klangfarben in der Standardnotation einer konventionellen Partitur allenfalls noch approximativ notierbar sind). Dennoch hat Cage in den dreißiger und frühen vierziger Jahren zunächst versucht, diejenigen musikalischen Ordnungsbereiche, für die die traditionelle Notation weiterhin verwendbar erschien (vor allem die rhythmischen Werte; partiell auch die dynamischen Werte) strukturell auszukomponieren - und zwar, in Antizipation serieller Verfahren, nach Prinzipien der zeitlichen Strukturierung, die sowohl im Detail als auch in größeren Formzusammenhängen galten. Auf dem Wege der Weiterführung und Radikalisierung dieser Ansätze näherte sich Cage um 1950 einem partiell indeterminierten Strukturalismus, während ungefähr gleichzeitig Pierre Boulez, der damals mit ihm intensiv über kompositionstechnische Fragen korrespondierte, zunächst Indeterminismus und Zufallsverfahren ablehnte (und erst später, in produktiver Auseinandersetzung vor allem mit Karlheinz Stockhausen und mit dessen seriell kontrollierten Alternativen zur Unbestimmtheitsästhetik von Cage, Elemente der begrenzten interpretatorischen Variabilität in seine Partituren einführte, insbesondere in seine 3. Klaviersonate). Während Boulez am Konzept der klanglich weitgehend vorfixierenden kompositorischen Strukturierung festhielt, verstärkte Cage seit den frühen fünfziger Jahren Aspekte der Unbestimmtheit zu Lasten der klanglich fixierenden Vorstrukturierung. Mit dem seriellen Denken europäischer Komponisten wie Boulez und Stockhausen verbindet ihn, zumindest bis in die fünfziger Jahre hinein, das Interesse an der Zeitstrukturierung auf verschiedenen strukturellen Ebenen sowie die strukturell gleichwertige Behandlung verschiedener Parameter; von seinen europäischen Kollegen trennt ihn die Radikalität seines (quasi-)seriellen Indeterminismus. - Cage konzentriert sich in seinen Partituren seit den fünfziger Jahren häufig auf die Definition von Ordnungsbereichen, die auf der Basis von Alternativfragen strukturiert werden können, deren Beantwortung mittels Zufallsoperationen erfolgen kann. Die aleatorischen Ansätze in der europäischen Musik hingegen ergeben sich häufig aus einer partiellen Lockerung der kompositorischen Kontrolle, deren klangliche vorstrukturierende Funktion gleichwohl grundsätzlich erhalten bleibt. Aufschlußreich ist, daß Beiträge von John Cage auch in das 1955 von Herbert Eimert und Karlheinz Stockhausen begründete Aperiodikum "die reihe", das vielleicht damals in Europa wichtigste Publikationsorgan der seriellen Musik, aufgenommen wurden.

Polare Unterschiede zwischen John Cage und europäischen seriellen Komponisten zeigen sich bereits in den frühen fünfziger Jahren. Besonders sinnfällig werden sie in ihren Partituren zu elektroakustischen Produktionen.

Die 1951 entstandene Komposition Imaginary landscape no. 4 hat Cage für 24 Interpreten komponiert, die 24 Radiogeräte bedienen (an jedem Radiogerät je ein Interpret für die Einstellung der Sendefrequenzen und für deren Lautstärkeregelung). Trotz strengster rhythmischer Fixierung in traditioneller Notation bleiben die Klangereignisse unbestimmt, abhängig von Ort und Zeit der Aufführung und den daraus resultierenden, unwiederholbaren radiophoner Ereignisse (was in der spätabendlichen Uraufführung Sendepausen vieler eingestellter Sender und infolgedessen ein weithin "stilles", von zahlreichen Pausen durchsetztes Klangresultat mit sich brachte).

Als Gegenstück zu dieser indeterminierten Radiokomposition entstand 1952 ein indeterminiertes Stück für auf Tonträgern (Schallplatten) gespeicherte Klänge: Imaginary landscape no. 5. Hier notiert Cage in exaktes Montageschema für vom Interpreten/Realisator frei wählbare Schallplatten. Hier - ebenso wie in den noch präziseren Montageplänen für Williams Mix, denen relativ abstrakte Anweisungen über die Herkunft der aufzunehmenden Klänge und über ihre elektroakustischen Transformationen beigegeben sind - ist die Partitur eine Produktionsanweisung, die viele verschiedene Realisationen erlaubt, so daß sogar eine Realisation durch den Komponisten selbst (Williams Mix, 1952; in vergleichbarer Weise, allerdings basierend auf einer weniger streng fixierenden graphischen Vorlage, auch 1958 in Fontana Mix)nicht als exemplarische Darstellung der in der Partitur angegebenen Möglichkeiten gelten kann, sondern nur als eine von mehreren denkbaren Lösungen. Diese exponierte Konzeption aleatorischer Tonbandmusik unterscheidet Cage von den Studioproduktionen europäischer Komponisten, die primär nicht als variabel realisierbare Partituren, sondern als eindeutig fixierte klangliche Realisationen existieren und deren Partituren nur in Ausnahmefällen vollständig ausgearbeitet und veröffentlicht sind. (Zu den wenigen Ausnahmen europäischer aleatorischer Tonbandmusik aus den späten fünfziger Jahren gehören Scambi von Henri Pousseur - ein Werk, das, in unterschiedlicher Zusammenstellung der Klangmaterialien und -spuren, in Realisationen von Pousseur selbst, von Berio und Wilkinson vorliegt - und Texte II von André Boucourechliev, zwei im Studio Mailand entstandene Werke.) Die in den damaligen Studios vorhandenen technischen Geräte ermöglichten aleatorische Verfahren allenfalls während der Produktion, aber nicht während der Aufführung eines Werkes, so daß zwar Montage-Varianten derselben Grundmaterialien vorproduziert werden konnten, aber nicht an die von Aufführung zu Aufführung wechselnde Darbietung desselben Werkes zu denken war.

Aleatorische Verfahren in der (Vokal- und) Instrumentalmusik haben seit den fünfziger Jahren bei vielen Komponisten zu Modifikationen des seriellen Determinismus beigetragen (z. B. bei Stockhausen, Boulez, Berio und Pousseur; Luigi Nono hat sich von diesen Tendenzen zunächst fern- und an weitgehenden seriellen Fixierungen festgehalten). In der elektronischen Musik wurden die Möglichkeiten serieller Vorausdetermination seit den fünfziger Jahren mehr und mehr in Frage gestellt, sobald mit dem Generator exakt eingestellte Klänge nicht mehr im Rohzustand verwendet wurden, sondern in komplexen, in den parametrischen Details nicht mehr kontrollierbaren technischen Verarbeitungen. Seriell konstruieren ließen sich in differenziert transformierten elektronischen Klangstrukturen allenfalls noch globale Veränderungsgrade in verschiedenen Parametern (Stockhausen, Kontakte) oder rhythmische Strukturen aus im Detail nicht exakt fixierbaren Klängen, die im fertigen Stück in unterschiedlichen, systematisch angeordneten Transformationsvarianten aufeinander folgen (Koenig, Terminus).

In der elektronischen Musik setzten sich Tendenzen variabel aufführbarer, klanglich indeterminierter Live-Musik erst in den sechziger Jahren durch, als neben der im Studio vorproduzierten Tonbandmusik die live-elektronische Musik zunehmend an Bedeutung gewann, deren komplexe Geräuschstrukturen sich häufig weniger in seriell vorstrukturierten Partituren erschließen lassen als in Produktionen, die den Interpreten mehr oder weniger weite Spielräume der (quasi-)improvisatorischen Gestaltung beließen. Vergleichbare Ansätze dr klanglich nicht mehr exakt vorausbestimmenden, sich improvisatorischen Verfahren öffnenden Komposition und Interpretation entwickelten sich auch in konventioneller (Vokal- und) Instrumentalmusik. In konventionell besetzter oder live-elektronischer Instrumentalmlulsik der sechziger Jahre verstärkten sich Aspekte der Indetermination und insbesondere des Abbaus struktureller (vor allem serieller) Fixierungen sogar im oeuvre sonst völlig gegensätzlicher Komponisten wie John Cage (z. B. im Zyklus seiner Variations) und Karlheinz Stockhausen (z. B. in den Prozeßplanungskompositionen Plus-minus, Prozession, Kurzwellen, Spiral, Pole und Expo sowie in Textkompositionen der Zyklen Aus den sieben Tagen und Für kommende Zeiten).

In den späten sechziger Jahren gelangten die Tendenzen zunehmender Indeterminierung in den Arbeiten verschiedener exponierter Komponisten an einen kritischen Wendepunkt. Dies führte, auch in Verbindung mit der Rückwendung zu traditionellen Werk- und Materialstrukturen, zu einer Reetablierung serieller Strukturierungen unter neuen Vorzeichen. Serielle Strukturierungen nicht seriell strukturierter Klangstrukturen und Musikvorlagen finden sich seitdem in Werken so unterschiedlicher Komponisten wie Stockhausen (Telemusik und Hymnen: Verarbeitung von Musikfragmenten aus verschiedenen Ländern und Kontinenten; Opus 1970 Stockhoven/Beethausen - Kurzwellen mit Beethoven: Version der Kurzwellen mit vorproduzierten technisch manipulerten Fragmenten aus Werken Beethovens), Cage (HPSCHD, Cheap imitation: Verarbeitung von Klaviermusik-Fragmenten verschiedener Komponisten bzw. einer Komposition von Erik Satie), Berio (Sinfonia) und Kagel (Staatstheater, Programm, Variationen ohne Fuge: u. a. Verarbeitungen tonaler Klischees und musikalischer Vorlagen von Bach und Brahms). Serielle Strukturierungen sind in diesem Zusammenhang besonders häufig bei Mauricio Kagel zu finden, in dessen Musik sich seit den siebziger Jahren die serielle Verarbeitung

(pseudo-)tonaler Musikmuster und -fragmente bzw. ein seriell strukturierter (Neo-)Neoklassizismus durchgesetzt haben.

Reetablierungen von aus der Tradition übernommmenen musikalischen Materialordnungen spielen, auch ohne explizite Zitate traditioneller Musik, seit den späten sechziger und siebziger Jahren, eine wichtige Rolle auch in vielen Kompositionen von John Cage: In Werken wie den Quartets und in den meisten Kompositionen aus dem Zyklus der späten Zahlenstücke löst sich Cage von experimentellen grafischen und verbalen Notationsformen früherer Werke und kehrt (in modifizierter Form) zur traditionellen Notation fester Tonhöhen zurück, die er mit einer in Grenzen flexiblen ("erdbebensicheren") chronometrisch kontrollierten Zeitstrecken-Notation verbindet. In Ton- und Zeitstrukturen sowie in weiteren, für verschiedene Stücke unterschiedlich fixierten strukturellen Differenzierungen kehrt Cage zum seriellen Parameterdenken zurück, wobei allerdings Parameter-Fixierungen gegebenenfalls nicht deterministisch, sondern in Zufalls-Entscheidungen vorgenommen werden.

Noch deutlicher wird die Reetablierung seriellen Musikdenkens unter neuen Aspekten seit den siebziger Jahren in der Musik von Karlheinz Stockhausen. In seinen Formelkompositionen (1970-77) und in seiner multiformalen Musik (seit 1977) erscheinen serielle Strukturierungen primär nicht mehr als abstrakte, erst in der Partituranalyse sich erschließende Konstruktionsprinzipien, sondern als unmittelbar im konkreten Höreindruck nachvollziehbare Gestalten und Gestalt-Transformationen. Die Konstruktion geht aus von melodisch prägnanten, über einen einzigen Oktavraum nicht oder nur wenig hinausreichenden Tonfolgen in charakteristischen Strukturierungen der Invervalle, Bewegungsrichtungen und Tongruppen. Die einzelnen Töne sind individualisiert durch charakteristische Tonformen (z. B. als ausgehaltene, im Zentrum oder - quasi in Aus- bzw. Einschwingvorgängen - an Anfang bzw. Ende belebte Klänge; hier finden sich neue Lösungsansätze für die in früher punktueller und serieller Musik noch ungelöst gebliebenen Probleme seriell strukturierter Artikulation). Die Zeitwerte sind strukturiert nicht nur in abgestuften Dauern und Tempi, sondern auch in der Abgrenzung der zentralen Klangdauern mit imaginären (d. h. mit kontrastierenden Hörereignissen gefüllten, "gefärbten") oder realen Pausen. Zeitlich proportioniert sind Abfolgen nicht nur verschiedener Töne, sondern auch verschiedener Tongruppen. Neben den eigentlichen Kerntönen gibt es in den Formeln auch Zusatztöne, die an vorausgegangene Kerntöne erinnern, auf künftige vorausweisen oder das Intervall zwischen einem früheren und einem späteren Kernton mit skalenartig angeordneten Zwischentönen überbrücken (mit chromatisch-zwölftönigen oder mikrotonalen Intervallen). Als Grenzfälle kleinstufiger Skalenbewegungen von einem Kernton zum anderen lassen sich die Glissandi beschreiben. Elektronisch ausgestaltet sind sie, in Verbindung mit auskomponierten Klangbewegungen zwischen 8 Lautsprechern, in der Tonbandkomposition Oktophonie instrumental auskomponiert sind sie, in Verbindung mit Freiluft-Raumbewegungen, im Helikopter-Streichquartett). In vielfältigen Abstufungen und Veränderungen von Tonhöhen, Lautstärken und Klangfarben realisieren sich nicht nur reine Tonstrukturen, sondern auf vielfältige Abstufungen zwischen den Polen des reinen Tones und des komplexen Geräusches. Die in vielen Parametern abgestuften und sich verändernden Hörereignisse sind kombinierbar mit (ggf. musikalisierten) Texten und mit szenischen Vorgängen.

Cage und Stockhausen repräsentieren, in polarer Gegensätzlichkeit, mögliche Differenzierungen im Musikdenken des 20. Jahrhunderts und insbesondere in seinen seriellen oder (sei es auch in bestimmter Negation) auf Serialität bezogenen Aspekten, die auch andere Komponisten ihrer eigenen oder späterer Generationen beeinflußt haben (u. a. Dieter Schnebel, Pierre Mariétan, Brian Ferneyhough und Helmut Lachenmann).

Schwierigkeiten, größere Entwicklungszusammenhänge der seriellen Musik darzustellen, ergeben sich einerseits aus gravierenden Mehrdeutigkeiten der Verwendung dieses Begriffes und seiner Korrelate in anderen Sprachen, andererseits aus unterschiedlichen Auffassungen über die historische Tragweite dieses Begriffes. Kontrovers sind sowohl der terminus post quem als auch der terminus ante quem seines angemessenen Verwendung, und zwar sowohl für das oeuvre einzelner Komponisten als auch für größere kompositionsgeschichtliche Entwicklungszusammenhänge im 20. Jahrhunert. Wenn, im Interesse einer Klärung der wichtigsten Streitfragen, eine möglichst umfassende Verwendung dieses Begriffes versucht wird, so kann gleichwohl nicht davon abgesehen werden, daß einerseits die von ihm bezeichneten musikalischen Sachverhalte und Zusammenhänge besonders eng verbunden sind mit der Etablierung des Tonreihendenkens in der zweiten Wiener Schule und mit späteren Versuchen, diese in produktiver Kritik zu verallgemeinern - daß aber andererseits auch die Relevanz dieses Begriffes für die Musikentwicklung nach 1960 eben so wenig bezweifelt werden kann wie für die Zeit vor 1950 und daß er, unbeschadet weitgehender, spätestens seit den siebziger Jahren teilweise wieder revozierter Profilverluste im Kontext der Musik der sechziger Jahre (für die, auch im Hinblick auf sich jetzt verstärkt profilierende neue Komponistennamen etwa von György Ligeti und Krzystof Penderecki,angesichts ihres Zusammenhanges mit der Musik der fünfziger Jahre der Terminus "postserielle Musik" einseitig und mißverständlich erscheinen muß), bis in das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinein für die kompositorische Entwicklung relevant geblieben ist.



Es gibt folgende untergeordnete Dokumente:


[Zurück]   [Vor]   [Hoch]   [Startseite]        [Index]   [Frisius-Homepage]