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Gerry Schum
»Brief an Gene Youngblood«

29.6.1969

Lieber Mr. Youngblood,

ich befürchte, dieser Artikel oder Brief wird die absolute Spätvorstellung für Ihr Buch EXPANDED CINEMA.
Entschuldigung, wir waren fürchterlich beschäftigt mit der Arbeit an dem Katalog für unsere Fernsehsendung »Land Art«. lch hoffe, ich bin mit diesem Brief nicht zu spät.
Sie schrieben mir, Sie würden alles drucken, was ich Ihnen schicke. Für mich ist das etwas schwierig, einen Artikel für Ihr Buch zu schreiben. Ich glaube, mein Englisch ist nicht genau genug. Vielleicht korrigieren Sie es oder schreiben das Ganze um.
Der einfachste Weg, meine Vorstellungen von Kunst und Fernsehen zu erklären, ist, Ihnen einige Anhaltspunkte über die Fernsehgalerie und besonders über die Sendung »Land Art« zu geben, die kürzlich durch das Fernsehen bundesweit ausgestrahlt wurde. Das heißt, ich habe die Möglichkeit, über Tatsachen zu sprechen und nicht über Theorien, die mehr oder minder nur die Hoffnungen für die Zukunft von Kunst und Fernsehen darstellen. Ich denke, bis jetzt ist die Fernsehgalerie eine einzigartige Form der Kunstrezeption zwischen all den verschiedenen Arten von Kunstsendungen im Fernsehen. Die jüngste Fernseh-Kunstausstellung, die wir gemacht haben, war die Sendung »Land Art« in der
Fernsehgalerie.


In Land Art, wurden Film-Objekte der folgenden Künstler gezeigt:
Name des Künstlers Objekt Ort der Ausführung
Richard Long Walking a straight 10 Dartmoor/England
Mile Line
Barry Flanagan Hole in the Sea Scheveningen/Holland
Dennis Oppenheim Time Track Fort Kent, Timeborder
USA/Canada
Robert Smithson Fossil Quarry Mirror Cayuga Lake, State N.Y.
Marinus Boezem Sandfountain Camargue, South France
Jan Dibbets 12 Hours Tide Object with Dutch Coast
Correction of Perspective
Walter de Maria Two Lines Three Circles Mojave Desert, California
on the Desert
Mike Heizer Coyote Coyote Dry Lake, Calif.

Zuerst will ich Ihnen einige Fakten zur Fernsehgalerie geben. »TV« ist zu deutsch »Fernsehen«. So bedeutet »FernseIngalerie« dasselbe wie TV gallery. Ich habe den Ausdruck »Fernsehgalerie« gewählt, um die Zuschauer auf die neue Form von Kunstsendung aufmerksam zu machen, die die Fernsehgalerie darstellt. Der erste Ausgangspunkt, den ich erklären muß, ist die Tatsache, daß es keinen wirklichen Galerieraum gibt. Die Fernsehgalerie besteht nur in einer Serie von Fernseh-Ausstrahlungen, das bedeutet, die Fernsehgalerie ist mehr oder minder eine geistige Institution, die nur im Augenblick der Ausstrahlung durch das Fernsehen Wirklichkeit wird. Das ist kein Ort, um greifbare Kunstobjekte zu zeigen, die man kaufen und nach Hause tragen kann. Eine unserer Ideen ist die Kommunikation von Kunst anstelle des Besitzes von Kunstobjekten.

Dieses Konzept macht es notwendig, ein neues System zu finden, um die Künstler zu bezahlen und die Kosten für die Ausführung der Kunstobjekte in der Fernsehsendung zu decken. Unsere Lösung ist es, das Recht zur Veröffentlichung, das heißt eine Art Copyright, an die Fernsehanstalt zu verkaufen. Die Fernsehproduktion deckt die Kosten für die Dreharbeiten selbst und die Ausgaben für die Ausführung der Kunstobjekte, und sie bezahlt den Künstlern ein Honorar. Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum irgendein Museum oder eine Galerie oder ähnliche Institution – oder in diesem besonderen Fall eine Fernsehanstalt – das Recht haben sollte, Kunstobjekte zu zeigen, ohne dem Urheber, dem Künstler, ein Honorar zu zahlen. In einer Zeit, wo die Veröffentlichung von Kunst durch Druck und Ausstrahlung immer wichtiger wird – mal abgesehen vom Verkauf von Kunst –, sollte der Künstler die gleichen Rechte haben, wie sie selbstverständlich jeder Autor, Schauspieler, Komponist usw. verlangen kann.

Heutzutage werden mehr und mehr Kunstobjekte nicht mehr für Kunsthändler, Galerien oder irgendeine Art von Privateigentum geschaffen. Das trifft besonders auf die Objekte der Land-Art-Künstler und die Ideen der Konzeptkunst zu. Ich glaube, es gibt einen grundsätzlichen Wandel von der Herstellung von Objekten zur Veröffentlichung von Projekten und Ideen. Das setzt natürlich auch einen grundsätzlichen Wandel im Umgang mit Kunst voraus. Ich denke, ein Ergebnis dieses Wandels ist die Fernsehgalerie. Es gibt ähnliche Vorstellungen, wie die Ideen von Seth Sieglaub in New York und Givaudan in Paris. Um Harald Szeemann aus Bern zu zitieren, das traditionelle Dreieck von Atelier, Galerie und Sammler, in dem Kunst bis heute stattfand, wird zerstört.

Entsprechend dieser Ideen, ist die Fernsehausstellung »Land Art« keine Dokumentation eines Kunstereignisses, das auf irgendeineWeise außerhalb der genauen Zeit und des Ortes derAusstrahlung existiert. Im Gegensatz zur Dokumentation von Kunstereignissen im Fernsehen, die für ein anderes Medium geschaffen wurden, wie zum Beispiel für eine Galerieausstellung, ist in der Fernsehgalerie alles entsprechend dem Medium Film oder Fernsehen konzipiert. Das bedeutet, die Kunstobjekte oder Kunstideen sind nur im Augenblick der Ausstrahlung wirklich. Nach normalerweise sechs Monaten Arbeit mit Künstlern und Fernsehen bleibt nichts anderes übrig als eine Filmrolle mit 500 Metern. Da ist kein Objekt, das man in »Wirklichkeit« sehen oder das verkauft werden könnte.

Das Kunstwerk selbst ist der Film. Der Film ist das Ergebnis der Ideen und Ausführung des Künstlers und meiner Arbeit als Regisseur und Kameramann. In der Praxis hat der Künstler eine Idee, die schon mehr oder minder die Tatsache beinhaltet, daß ihre Reproduktion durch das Medium Film oder das Fernsehen Teil der Ausführung der Arbeit selbst ist. Die Arbeit als »Symbiose» zwischen der künstlerischen Idee und dem Medium Film.

Zusammenfassend: Die erste besondere Voraussetzung der Fernsehgalerie ist die Tatsache, daß alle Objekte, die während einer Sendung der Fernsehgalerie ausgestrahlt werden, speziell für die Reproduktion durch das Medium Fernsehen geschaffen wurden. Die einzige Form der Vermittlung ist die Ausstrahlung durch die Fernsehanstalt. Der Vorgang des Filmens und Sendens ist ein grundlegender Bestandteil des Kunstwerks, das in der Fernsehgalerie zu sehen ist. Zwei Beispiele: Richard Long, der an der Sendung »Land Art«, teilnahm, benutzte die Filmkamera, um einen bestimmten Teil der Landschaft zu markieren. Der Titel seines Objekts war: »Walking a straight 10 mile line forward and back shooting (filming) every half mile«. Ich glaube, denkt man an die Ideen der Fernsehgalerie, so schuf Richard Long das
60 konsequenteste Objekt in der Sendung »Land Art«. Um seine zehn Meilen lange Linie zu markieren, brauchte er weder Kreide noch hat er einen Graben ausgehoben. Nur die Kamera filmte jede halbe Meile sechs Sekunden lang die Landschaft in der Richtung, in die er ging. Long selbst war dabei außerhalb des Bildes.

Das zweite Beispiel ist Jan Dibbets Objekt der Sendung »Land Art« »12 hours tide object with correction of perspective«. Irgendwo an der holländischen Küste zeichnet ein Bulldozer vor der Kamera ein Trapez in den Sand. Die Unterkante des Trapez' war nahe der Kamera drei Meter lang, die Oberkante war dreißig Meter. Dieses Verhältnis zwischen Ober- und Unterkante ergab sich aus der Perspektivkorrektion durch das Weitwinkelobjektiv der Kamera. Die kürzere Seite des Trapez' befand sich vor der Kamera. Mit dem Ergebnis, daß das Trapez, durch die Kamera gesehen – und das war die einzige Form der Rezeption, für die es geschaffen wurde –, zu einem perfekten Rechteck im Verhältnis zum Bildausschnitt der Kamera wurde. Schon vorher machte Jan Dibbets mit einem Fotoapparat ähnliche Objekte. Mit der Filmkamera machte er nun den Vorgang des Zeichnens wie auch die Zerstörung durch die Flut in einem Objekt sichtbar. Die ganze Zeit über hatte die Kamera die gleiche Position. Keine Zwischenschnitte, die verschiedenen Einstellungen wurden durch Auf- und Abblenden aneinandergefügt.

In dem Film »Land Art« wurde keiner der Künstler als handelnde Person gezeigt. Ich denke, das ist ein weiterer besonderer Punkt der Fernsehgalerie. Die Idee der Fernsehgalerie ist es, nur Kunstobjekte zu zeigen. Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Sinn hat, Gesichter und Hände von Künstlern in Großaufnahme zu zeigen oder die »Atmosphäre« eines Ateliers zu filmen. Das einzige, was man sehen sollte, ist das Kunstwerk. Und da gibt es keinen Kommentar. Während der gesamten 38 Minuten der Sendung »Land Art« wird kein einziges Wort gesprochen. Keine Erklärung. Ich denke, daß ein Kunstobjekt, im Bezug auf das Medium Fernsehen entstanden, keiner gesprochenen Erklärung bedarf.

Generell halte ich die Fernsehausstellungen der Fernsehgalerie für eine eigenständige Forrn des Kunstereignisses – und nicht für eine Dokumentation über ein Kunstereignis, das außerhalb des Fernsehens geschehen ist. Ich denke, es gibt heute nur sehr wenige Künstler, die sich der Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zwischen Kunst und Fernsehen bewußt sind. Einige von ihnen arbeiten mit Fotografien oder Postkarten oder in irgendeiner anderen Form von gedruckter Kommunikation. Angesichts der Möglichkeiten zur Kommunikation von Kunstobjekten oder Kunstideen kann unsere Lage mit der Situation der Literatur vor der Erfindung von Gutenbergs Druckmaschine verglichen werden. Werke der Literatur können in Millionen Auflage vervielfältigt werden, Musik kann man auf Millionen von Platten kaufen, nur Kunstobjekte sind immer einmalig. Bis heute ist es Künstlern nicht gelungen, ein modernes System zur Kommunikation zu finden. Die einzige Chance, die ich für die bildende Kunst sehe, ist die bewußte Verwendung des Mediums Fernsehen. Und das heißt nicht, sich eine Kamera suchen und einen Film über Künstler und Kunstobjekte machen. Künstler und Filmemacher, möglicherweise in einer Person, sollten nach einer so eng wie möglichen Zusammenarbeit suchen für eine neue Form der Kunstobjekte oder -projekte, die sich durch das Medium Fernsehen übertragen lassen. Kunst sollte nicht länger für den privaten Urngang oder die Exklusivität von Händlern und Sammlern gemacht werden. Für die Fernsehanstalten würde das einen Wandel bedeuten von der Dokumentation von Kunstereignissen, die in Galerien oder Museen stattfinden, hin zu Kunstproduktionen, die speziell für das Medium Film oder Fernsehen geschaffen und mit der vollen Verantwortung für Form und Inhalt durch die Fernsehanstalten ausgestrahlt werden.

Quelle: Wulf Herzogenrath (Hg.), Videokunst in Deutschland 1963–1982, Stuttgart, 1982, s. 55–65. Original erschienen in: Gerry Schum, Ursula Schum-Wevers Fernsehgalerie Gerry Schum, Land ArtI, April 1969, Hartwig Popp, Hannover 1970 (2. Aufl.), S. 4–5