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Nam June Paik
»Global Groove und der gemeinsame Videomarkt«

Dem Vertrag von Rom (1957) waren ein Jahrzehnt zuvor die mündlichen Ermahnungen prophetischer Staatsmänner wie Robert Schumann, Jean Monnet oder Hallstein vorangegangen und die weitschweifigen, sorgfältigen und ausgedehnten Verhandlungen der Ökonomen von sechs europäischen Ländern. Viele Male war dieser Prozeß hoffnungslos, utopisch oder akademisch genannt worden. Aber das Ergebnis, der europäische gemeinsame Markt, eine langerträumte Freihandelszone, ließ sogar die wildesten Vorstellungen von Wachstum und Wohlstand hinter sich. Englands Kummer ist wohlbekannt.

Das Videoland auf diesem Raumschiff Erde erinnert an den geteilten Zustand der europäischen Länder vor 1957 Viele Fernsehsender horten weltweit Videobänder mit Tausenden von Stunden Spieldauer und verlangen unmöglich hohe Preise oder die komplizierte Einholung ihres Einverständnisses, für die man eine Ware erhält, die fast keine Aussicht hat, verkauft zu werden. Oder die Staaten von Videoland, einem sogenannten Kommunikationsmedium, kommunizieren so wenig untereinander, daß praktisch keiner weiß, was er kaufen, importieren oder exportieren soll. Sollte die Videokultur so geteilt, nationalistisch und protektionistisch bleiben wie die Blockwirtschaft in den 30er Jahren, die die Wirtschaftskrise verstärkte, den Faschismus mit verursachte und dem Zweiten Weltkrieg mit Vorschub leistete?

Der Weltfrieden und das Überleben der Erde ist öffentliches Interesse Nummer 1, und das öffentliche Interesse Nummer 1 muß selbstverständlich das Interesse Nummer 1 des öffentlichen Fernsehens sein. Was wir jetzt brauchen, ist ein Weltmeister des Freihandels, der einen gemeinsamen Videomarkt nach dem Modell des europäischen gemeinsamen Marktes, in seinem Geist und analog zu seinen Verfahren gestaltet; dies würde die TV-Kultur vom hierarchischen Monismus befreien und den freien Fluß von Videoinformation durch ein kostengünstiges Tauschsystem oder einen zweckmäßigen freien Markt fördern.

McLuhans unausgegorene hohe Erwartungen für das globale Dorf durch Fernsehen basieren auf einem obskuren Buch, The Bias of Communication von Harold A. Innis (1951), das den Ursprung des Nationalismus auf die Erfindung der Buchdruckkunst zurückführt. Jedoch ist die heutige Videokultur ironischerweise weit nationalistischer als das Druckmedium. Man kann Camus oder Sartre praktisch in keinem Buchladen entkommen. Aber kannst du dich erinnern, kürzlich eine französische Fernsehproduktion gesehen zu haben? David Atwood, ein Regisseur bei WGBH, berichtet, daß Fernsehkameras die neuesten Ausbrüche von Gewalt so häufig aufnehmen,daß Kinder, die ihre Erziehung größtenteils durch das Fernsehen erhalten, denken, solch noble Länder wie die Schweiz und Norwegen seien Immobilienobjekte, die in der Milchstraße oder mindestens jenseits von Madagaskar liegen. Wie können wir den Frieden lehren, während wir die wenigen positiven Beispiele vom Bildschirm verbannen? Die asiatischen Gesichter, denen wir auf dem amerikanischen Fernsehschirm begegnen, sind entweder elende Flüchtlinge, erbärmliche Gefangene oder verhaßte Diktatoren. Aber die meisten Asiaten der Mittelklasse sehen genau dieselbe Art von sauberen Unterhaltungsshows auf ihren heimischen Bildschirmen wie die meisten durchschnittlichen amerikanischen Familien. Trug diese ungeheure lnformationslücke zu den jüngsten Tragödien in Vietnam bei? Hatten diese einfachen Gls in Song Mi auch nur im mindesten Vorurteile durch das typisch amerikanische Fernsehen des Mittleren Westens, bevor sie in Saigon landeten, das natürlich alle Nachteile einer Stadt in einem vom Krieg erschütterten Land aufwies? Wenn ja, sind diese angeklagten Gls in einem gewissen Grade auch Opfer der monistischen Fernsehanstalten. Don Luce, ein früherer Direktor des Internationalen Freiwilligen Dienstes in Vietnam mit einer zehnjährigen Dienstzeit, schreibt: »Die amerikanischen Mißerfolge in Vietnam sind wesentlich Mißerfolge in der Kommunikation und im Verstehen gewesen« ( Saturday Review aus Vietnam: Unheard Voice, Cornell University Press). Und wie ist es mit dem russischen Fernsehen? Es kann nicht so schlecht sein, wenn es solche bourgoisen Seifenopern

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wie Die Forsythe-Saga sendet, urid ich bin neugierig zu erfahren, wie ihr Huntley-Brinkley-witsch jeden Abend die Prawda (Wahrheit) mitteilt. Verständlicherweise werden die Verhandlungen für den gemeinsamen Videomarkt ebenso ermüdend und frustrierend sein wie jene für den europäischen gemeinsamen Markt. Aber dessen großer Lohn wird nicht nur philosophisch sein. Auch für ein kulturelles Wirtschaftssystem ist eine schnellere Rotation des Kapitals aus Gründen der Kosteneffizienz ein vitales Bedürfnis. Ein neues Papiergeld, das vom Internationalen Währungsfond geschaffen wurde, um den Goldfluß zu kontrollieren, der vom Special Drawing Right oder SDR angezeigt wird, würde als Modell für den vorgeschlagenen gemeinsamen Videomarkt dienen. Ich regte dies in rneinem Stony Brook Report im Februar 1968 an, bevor das SDR verabschiedet worden war.
Das System des amerikanischen öffentlichen Fernsehens ist von Natur aus dazu prädestiniert, die Vorhut für diese Bewegung zu bilden. Eine hartnäckige und langfristige Initiative sollte von WGBH initiiert werden. Die Idee ist radikal in dem Sinne, daß sie die Radix oder die Wurzel des Konventionalismus jenseits von Erfolg oder Mißerfolg der einzelnen Sendungen oder wöchentlichen Serien attackiert.
Jazz war die erste Verbindung zwischen Schwarzen und Weißen. Mozart war die erste Verbindung zwischen Europäern und Asiaten. Beethoven war die letzte Verbindung zwischen Deutschen und Amerikanern während des Zweiten Weltkrieges. Zur Zeit ist die Rockmusik der einzige Kanal zwischen jung und Alt. Aber die Kraft der Musik als ein nonverbales Kommunikationsmedium ist ebenso sehr verschwendet worden wie die ungeheuren Ressourcen unter dem Ozean. Wenn wir ein wöchentliches Fernsehfestival zusammenstellen könnten, das aus Musik und Tanz einer jeden Nation besteht, und es über den vorgeschlagenen gemeinsamen Videomarkt frei an die ganze Welt verteilen, würde die Wirkung auf Erziehung und Unterhaltung deshalb phänomenal sein. Frieden kann so aufregend wie ein Kriegsfilm mit John Wayne sein. Der müde Slogan vom »Weltfrieden« wird wieder frisch und vermarktbar werden.
1938 definierte Buckminster Fuller das Wort »Ökologie« wie folgt: dasselbe Wort >Ökonomie< entspringt etymologisch dem Wort >Ökologie<, was die Menge an Wissen bedeutet, die aus dem Hause heraus entwickelt ist. Wir legen das Gewicht nicht auf die Unterbringung, sondern im wesentlichen auf unfassende Forschung und Design .... Die Frage des Überlebens und die Antwort, die Einheit (unit) ist, liegt in der fortschrittlichen Endsumme des sich entwickelnden Wissens der Menschheit. Das individuelle Überleben ist mit dem Ganzen gleichzusetzen als Ausweitung oder Auslöschung« (Nine Chains to the Moon, 1938).
Am letzten Erdentag wurde Ökologie als vorübergehende Gesichtsstraffung oder örtliche Betäubung betrachtet. Ökologie ist nicht »Polltik«, sondern eine fromme Weltanschauung, die an einen Weltentwurf, an globales Recycling glaubt, an die Veränderung unserer Haltung von einem »du ODER ich« zu einem »du UND ich«, wie Herr Fuller, der Guru der ganzen Bewegung, nie müde wird zu betonen. Global Groove und der gemeinsame Videomarkt gehen viel stärker an die Wurzel der Umweltzerstörung als eine weitere konventionelle Dokumentation über einen See.
Lassen Sie mich diesen Essay in digitaler Weise beenden:
Die New York Times widmet etwa 70 % ihrer wichtigen Seiten der internationalen Berichterstattung.
Die New York Daily News räumt ihr etwa 7 % ein.
WNETs Durchschnitt entspricht eher der Daily News als der Times.



Quelle: Edith Decker (Hg.), Nam June Paik. Niederschriften eines Kulturnomaden, Köln 1992, S.132–135.
Der im Februar 1970 geschriebene Text erschien in: The WNET-TV Lab News Nr. 2, 1973.